Die Gasversorgung in der EU ist auch langfristig ohne den Import von russischem Gas gewährleistet. Die Versorgungssicherheit steht also weiteren EU-Sanktionen gegen Russland nicht im Weg. Dies ist das Ergebnis einer modellbasierten Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Die DIW-Ökonominnen Franziska Holz und Claudia Kemfert aus der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt haben dazu gemeinsam mit Kollegen der Technischen Universität Berlin, Lukas Barner und Christian von Hirschhausen, langfristige Berechnungen mit dem Global-Gas-Modell vorgenommen. Dieses Modell bildet alle Akteure der weltweiten Erdgaswirtschaft in hohem Detailgrad ab. Dazu haben die Wissenschaftler*innen zwei Nachfrageszenarien, eins mit schnell und eins mit langsam sinkender Erdgasnachfrage, mit drei Angebotsszenarien kombiniert: Importe aus Russland wie derzeit, Importe aus Russland wie vor dem Kriegsjahr 2022 und ganz ohne russische Importe. Dieser Fall könnte eintreten, wenn sich die EU-Länder doch noch auf Sanktionen gegen russisches Erdgas einigen können.
Zwar importiert die EU seit dem russischen Angriff auf die Ukraine bereits nur noch rund ein Viertel der ursprünglichen Menge aus Russland, dennoch bleibt das Land Exporteur von Flüssigerdgas (LNG)in die EU und hat auch noch einige EU-Länder Mittel- und Osteuropas energiepolitisch im Griff. So bezieht beispielsweise Österreich noch 95 Prozent seiner Erdgasimporte aus Russland. „EU-weit deckt Russland derzeit noch rund 14 Prozent der Erdgasnachfrage. Doch Deutschland und Europa kämen in den kommenden Jahrzehnten auch ohne Importe aus Russland aus, selbst die stark von russischem Erdgas abhängigen Länder wie Österreich und Ungarn“, sagt Franziska Holz.
Würde die EU doch noch Sanktionen gegen russisches Erdgas verhängen, und sei es auch nur wie aktuell diskutiert für die Verschiffung russischen LNGs, würde der Wegfall vor allem über Norwegen und die USA gedeckt. Aber auch Länder wie Algerien, Katar, Nigeria und Aserbaidschan würden den Wegfall des russischen Erdgases ersetzen – selbst dann, wenn die Nachfrage in der EU nicht so schnell wie geplant sinken würde.
Geplanter LNG-Ausbau ist überdimensioniert
„Diversifizierung ist beim Erdgas ohnehin dringend geboten. Alle europäischen Länder haben verstanden, dass wir unseren Bedarf auf mehr Erdgasquellen verteilen müssen als früher“, unterstreicht Studienautorin Holz. Der Import von LNG wird dabei in allen Szenarien wichtiger, vor allem im Szenario mit verzögertem Nachfragerückgang, das einen konstant hohen Verbrauch bis Anfang der 2030er Jahre annimmt. Wenn die fünf Milliarden Kubikmeter LNG entfielen, die die EU derzeit pro Quartal noch aus Russland bezieht, könnten diese Importe aber in fast allen Szenarien ohne die derzeit in Planung befindlichen Ausbauten auskommen. Lediglich in einem Extrem-Szenario müssten die vorhandenen LNG-Kapazitäten in der EU leicht erweitert werden, konkret in Italien und Kroatien. „Der derzeit geplante Ausbau an LNG-Importterminals ist stark überdimensioniert“, meint Studienautor Christian von Hirschhausen.
Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt im DIW Berlin, schlussfolgert: „Mittel- und langfristig steuert die europäische Energiewirtschaft auf einen Erdgasausstieg zu. Der rasche Umstieg auf erneuerbare Energien ist nicht nur klimapolitisch sinnvoll. Er trägt auch maßgeblich dazu bei, bestehende Importabhängigkeiten und damit die vermeintliche Erpressbarkeit einiger europäischer Staaten zu verringern.“
(c) DIW, 23.05.2024