Trotz Zeitenwende-Rhetorik vergrößert sich der Abstand zwischen den militärischen Fähigkeiten Deutschlands und Russlands weiter. Die Ausgaben der Ampelregierung für die Bundeswehr sind angesichts der aktuellen Bedrohungslage durch Russland und nach Jahrzehnten der Abrüstung völlig unzureichend. Hinzu kommt ein desolates Beschaffungswesen. Um Militärbestände von vor 20 Jahren zu erreichen, bräuchte Deutschland beim aktuellen Beschaffungstempo bis zu knapp 100 Jahre. Dem stehen massiv anwachsende russische Rüstungskapazitäten auch bei modernen Waffensystemen gegenüber, die die gesamte Menge der deutschen Waffenbestände in nur gut einem halben Jahr produzieren. Das zeigt ein Report des IfW Kiel und die neue Datenbank Kiel Military Procurement Tracker.
„Russland erwächst zu einer immer größeren Sicherheitsbedrohung für die NATO. Gleichzeitig kommen wir mit der für die Abschreckung nötigen Aufrüstung nur sehr langsam voran“, sagt Guntram Wolff, Fellow am IfW Kiel und Hauptautor des Kiel Reports „Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Europas und Deutschlands langsame Aufrüstung gegenüber Russland“.
„Was Europa jetzt braucht, ist neben dem Sondervermögen eine dauerhafte, deutliche und sofortige Erhöhung der regulären deutschen Verteidigungsausgaben auf mindestens 2 Prozent des BIP. Man muss es so deutlich sagen: Ein Weiter-so-wie-bisher wäre mit Blick auf Russlands Aggression fahrlässig und verantwortungslos.“
Demnach schafft es die Bundesregierung gegenwärtig nur knapp, die an die Ukraine abfließenden Waffen zu ersetzen. Bei Luftverteidigungssystemen und mobilen Abschusseinheiten (Artillerie-Haubitzen) ist der Bestand sogar deutlich rückläufig. Erst 2023, gut ein Jahr nach dem Angriff Russlands, begann Deutschland überhaupt, in nennenswertem Umfang seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen und über das 2-Prozent-Ziel der NATO zu hieven.
Seitdem hat die Ampelregierung Bestellungen im Wert von rund 90 Milliarden Euro platziert. Der neue Datensatz Kiel Military Procurement Tracker dokumentiert alle veröffentlichten deutschen Militärbeschaffungen seit 2020.
Die Autorinnen und Autoren kritisieren die Verteidigungsanstrengungen aber als immer noch viel zu ambitionslos. Um wieder die Bundeswehrbestände von 2004 zu erreichen, bräuchte Deutschland gegenwärtig bis zu knapp 100 Jahre, was einerseits an der drastischen Abrüstung der letzten Jahrzehnte liegt, anderseits an der nach wie vor viel zu langsamen und sparsamen Aufrüstung unter der Ampelregierung.
Beim gegenwärtigen Beschaffungstempo wären die 2004er-Bestände bei Kampfjets in rund 15 Jahren, bei Kampfpanzern in rund 40 Jahren und bei Artillerie-Haubitzen erst in fast 100 Jahren erreicht.
Russlands Kampfkraft nimmt stetig zu
Gleichzeitig ist Russland laut Report in der Lage, dieselben Mengen in sehr viel kürzerer Zeit bereitzustellen. Die Produktionskapazitäten sind mittlerweile so groß, dass sie den gesamten Bestand der Bundeswehr in nur gut einem halben Jahr hervorbringen. Seit dem Angriff auf die Ukraine konnte Russland seine Produktionskapazitäten bei wichtigen Waffensystemen deutlich steigern, etwa bei der Langstrecken-Flugabwehr verdoppeln oder bei Panzern verdreifachen.
Dank Unterstützung aus Nordkorea kann Russland derzeit dauerhaft rund 10.000 Schuss Munition (Granaten und Raketen) pro Tag verfeuern. Deutschlands gesamte Jahresproduktion wäre bei dieser Rate nach 70 Tagen aufgebraucht.
Laut Report macht Russland dabei auch wesentliche Fortschritte bei modernen Kampfsystemen. Die Kapazitäten bei unbemannten Drohnen haben sich mehr als versechsfacht. Das Arsenal und Know-how Russlands bei seinen sehr zerstörerischen und kaum abzuwehrenden Überschallraketen (Supersonic und Hypersonic Missiles) sei für die NATO ein hohes Sicherheitsrisiko.
Im Falle einer Waffenpause in der Ukraine würden sich russische Militärbestände in beispiellosem Tempo erhöhen.
Fehlende Anreize für Militärindustrie
Die Autorinnen und Autoren kritisieren insbesondere, dass die deutsche Budgetplanung nicht genügend Anreize für die Militärindustrie bietet, ihre Produktionskapazitäten auszuweiten, weil unklar ist, wie viel Geld Deutschland nach Auslaufen des Sondervermögens für Verteidigung ausgeben will und kann. Die Folge seien lange Lieferzeiten und hohe Kosten. „Langfristige Planbarkeit und ein effizientes Beschaffungssystem sind essenziell für den Aufbau von industriellen Kapazitäten“, so Wolff.
Beschaffung sei auch unnötig teuer, weil nur in kleinen Mengen geordert wird, was höhere Stückpreise bedeutet als bei Großbestellungen. Ungeachtet der Kosten kämen vor allem heimische Produzenten zum Zuge. Die effizienteste Lösung wäre eine europäische Einkaufsgemeinschaft.
Moritz Schularick, Präsident des IfW Kiel, sagt: „Die Zeitenwende ist bislang nur eine Worthülse. Frieden gibt es dann, wenn das Regime in Moskau versteht, dass es einen Angriffskrieg in Europa militärisch nicht gewinnen kann. Dafür brauchen Deutschland und Europa glaubhafte militärische Fähigkeiten. Deutschland muss dafür ein angemessenes Verteidigungsbudget von mindestens 100 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung haben.“
Der Report gibt insgesamt sechs konkrete Politikempfehlungen und fordert eine langfristige, europäisch koordinierte Rüstungsstrategie.
(c) DeStatis, 10.09.2024