Die Produktionsmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft könnten in den nächsten Jahren spürbar sinken und im Mittel der nächsten Jahre dann nur noch Steigerungsraten von jährlich 0,4 Prozent zulassen, weniger als ein Drittel des langjährigen Durchschnitts von 1,3 Prozent. Wesentlich bedroht ist das Wachstum durch eine alternde Gesellschaft und damit der Verlust von Arbeitskräften. Hinzu kommen die Folgen der Corona-Pandemie und der Energiekrise. Dies geht aus der heute erschienenen Mittelfristprojektion des IfW Kiel zur Schätzung von Deutschlands längerfristigen Wachstumsaussichten hervor. Im Gegensatz dazu schätzt die IfW-Konjunkturprognose (06.09.2023: „Deutsche Wirtschaft schrumpft 2023 um 0,5 Prozent“) die tatsächliche Produktion in einem Jahr.
„Wachstum ist kein Schicksal. Es gilt jetzt wirtschaftspolitisch diejenigen Standortfaktoren zu stärken, die man selbst in der Hand hat – Stichwort Bildung, Infrastruktur, Bürokratie, Abgabenquote – und so auch für ausländische Fachkräfte attraktiver zu werden“, sagt Stefan Kooths, Konjunkturchef am IfW Kiel, anlässlich der heute erschienenen Mittelfristprojektion bis 2028 („Wachstum im Sinkflug, Expansionsspielräume nicht allzu hoch“).
Demnach entscheidend für die mageren Wachstumsaussichten im laufenden Jahrzehnt ist eine alternde Gesellschaft. In diesem und nächstem Jahr stagniert die Anzahl der Menschen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, bei 47,1 Millionen Erwerbspersonen. Ab 2025 dürften dann mehr Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als neue hinzukommen, etwa 200.000 pro Jahr. Dabei unterstellt ist eine Nettozuwanderung von rund 200.000 Erwerbspersonen aus dem Ausland, was im historischen Vergleich eher hoch ist.
Das potenzielle Arbeitsvolumen sinkt auch, weil die Partizipationsquote am Arbeitsmarkt ihren Zenit wohl überschritten hat und im Projektionszeitraum sinken dürfte, sofern nicht etwa über deutlich verbesserte Betreuungsmöglichkeiten, flexiblere Arbeitszeitmodelle oder eine längere Lebensarbeitszeit gegengesteuert wird. Außerdem ist die Arbeitszeit je Erwerbstätigen rückläufig.
Während die demografische Alterung Deutschlands Wachstumspfad abflacht, dürften die Corona-Pandemie und die Energiekrise außerdem das Niveau angegriffen haben. Das IfW Kiel schätzt das Niveau des Produktionspotenzials aktuell deutlich niedriger ein als im Herbst 2019 vor Beginn der Corona-Pandemie. Für das Jahr 2024 ergibt sich eine Abwärtsrevision um rund 3 Prozent bzw. rund 100 Mrd. Euro.
Durch die mittelfristig deutlich höheren Energiepreise ist ein wichtiger Produktionsfaktor nun knapper. Die Kapazität in der Automobilindustrie dürfte sich nicht zuletzt im Zuge der Umstellung der Produktion auf Elektroautos verringert haben. Zudem sind die Produktionseinbußen in den energieintensiven Industrien seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine wohl zu größeren Teilen dauerhafter Natur.
„Deutschland steht mit seiner demografischen Entwicklung nicht allein. In weiten Teilen der Weltwirtschaft stellen sich ähnliche Probleme. Der Wettbewerb um die Talente der Welt wird damit härter – umso wichtiger wird eine wachstumsstärkende Politik, die den Standort für qualifizierte Zuwanderung und Investitionen attraktiver macht. Ganz wesentlich sind hier auch eine funktionierende Infrastruktur und ein attraktives Wohnungsangebot in Städten, weil dort die produktivsten Unternehmen angesiedelt sind. Zugleich werden Unternehmen ihr Auslandsgeschäft mit Blick auf Beschaffungs- und Absatzmärkte und mit Blick auf Resilienz und aufstrebende Wirtschaftsräume anpassen müssen. Dass sie es können, haben sie in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt“, so Kooths.
„Ohne neue Wachstumsimpulse droht Deutschland eine Phase zunehmender Verteilungskonflikte. Denn weniger Wachstum engt immer auch die Verteilungsspielräume ein, und die Zahl der Menschen steigt, die im Alter Ansprüche auf Sozialleistungen haben.“
In seiner Mittelfristprojektion schätzt das IfW Kiel die Wirtschaftsleistung in Deutschland bei normaler Auslastung seiner Produktionsmöglichkeiten, wenn also (bei gegebener Produktivität) alle Arbeitskräfte und Maschinen normal ausgelastet sind. Dies entspricht dem sogenannten Produktionspotenzial und beschreibt den mittel- bis langfristigen Wachstumspfad der deutschen Wirtschaft.
Eine höhere Produktivität, mehr Arbeitskräfte oder erfolgreiche Investitionen erhöhen das Potenzial. Unrentabel gewordene Geschäftsmodelle beispielsweise reduzieren für sich genommen das Potenzial.
Die tatsächliche Produktion in einem Jahr – das Bruttoinlandsprodukt – weicht in aller Regel vom Produktionspotenzial ab und wird vom IfW Kiel in seinen Konjunkturprognosen geschätzt. In Boomphasen liegt das Bruttoinlandsprodukt darüber – Menschen machen Überstunden, Maschinen laufen länger. In der Rezession darunter – Menschen gehen in Kurzarbeit, Maschinen stehen still.
(c) IfW Kiel, 08.09.2023