Im wiedervereinigten Deutschland wurde noch nie so viel gearbeitet wie im Jahr 2023. Gleichzeitig ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Beschäftigten in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) und der Volkwirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR). Danach arbeiteten die abhängig Beschäftigten im vergangenen Jahr insgesamt rund 55 Milliarden Stunden, 1991 waren es noch 52 Milliarden. „Das Gesamtarbeitsvolumen ist vor allem gestiegen, weil immer mehr Frauen erwerbstätig sind“, sagt Studienautor Mattis Beckmannshagen, wissenschaftlicher Mitarbeiter des SOEP im DIW Berlin. „Allerdings ist fast die Hälfte der Frauen in Deutschland teilzeitbeschäftigt, obwohl einige gern mehr arbeiten würden. Ihr Potenzial für den Arbeitsmarkt bleibt also teilweise ungenutzt.“
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist zwischen 1991 und 2022 um 16 Prozentpunkte auf 73 Prozent gestiegen. Darin spiegelt sich der gesellschaftliche Wandel vom Einverdiener- zum Zweiverdienerhaushalt wider. Die DIW-Analyse zeigt aber auch, dass Frauen immer noch deutlich mehr Zeit für Kinderbetreuung und Hausarbeit aufwenden als Männer. Bei der Erwerbsarbeit ist es nach wie vor genau umgekehrt – Frauen arbeiten durchschnittlich etwa 33 Stunden, Männer hingegen 40 Stunden.
Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Männern ist seit 2011 leicht rückläufig, bei der Sorge- und Hausarbeit holen sie aber nur langsam auf. Wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt, wird es aber insbesondere bei der Kinderbetreuung noch Jahrzehnte dauern, bis Männer und Frauen gleich viel Zeit dafür aufwenden.
Die realisierten Arbeitszeiten entsprechen nicht zwangsläufig den Arbeitszeitwünschen der Beschäftigten. Die Daten des SOEP zeigen, wie sich Unterbeschäftigung und der Wunsch nach mehr Erwerbsarbeit in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben: Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg ist der Anteil von Frauen, die ihre Arbeitszeit aufstocken wollen, höher als bei Männern und schwankt stärker. Die DIW-Wissenschaftler*innen haben ermittelt, dass Frauen in Westdeutschland häufiger unterbeschäftigt sind als in Ostdeutschland, bei Männern bestehen hingegen keine regionalen Unterschiede. Ein Blick auf die verschiedenen Altersgruppen zeigt, dass Männer vor allem zu Beginn ihrer Erwerbstätigkeit weniger arbeiten, als sie möchten. Bei Frauen steigt die Unterbeschäftigung, wenn sie Kinder haben.
Zudem sind geringfügig Beschäftigte beider Geschlechter besonders häufig unterbeschäftigt. Eine Ausweitung der Arbeitszeit scheint demnach an der monatlichen Verdienstgrenze für einen Minijob (von derzeit 538 Euro) zu scheitern.
Potenziale unterbeschäftigter Frauen nutzen
Hier setzt eine der Politikempfehlungen der DIW-Forschenden an: „Um dem Fachkräftebedarf zu begegnen, sollten das Arbeitsmarktpotenzial von Frauen besser genutzt und Fehlanreize behoben werden“, befindet Annika Sperling, Studienautorin und studentische Mitarbeiterin im SOEP. „Reformen der Lohnsteuerklassen und des Ehegattensplittings können zum Beispiel dazu beitragen, dass es sich für Zweitverdiener*innen mehr lohnt, ihre Arbeitszeit über die Minijob-Grenze hinaus auszuweiten.“ Um das Arbeitsangebot von Frauen zu erhöhen, bedarf es den Studienautor*innen zufolge aber auch einer gerechteren Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern bei der Kinderbetreuung und im Haushalt. Die Politik könne diese Entwicklung mit zusätzlichen Kita-Plätzen und Elternzeitregelungen für Väter unterstützen.
Steuerfreie Überstunden sehen die Wissenschaftler*innen hingegen skeptisch. „Bei der Umsetzung einer solchen Reform bleiben viele Fragen offen. Wenn es überhaupt zu Veränderungen bei den Arbeitszeiten kommt, könnten bestehende Rollenverteilungen zementiert werden“, erklärt Beckmannshagen. „Denn häufig dürfte es der Mann mit dem höheren Einkommen sein, der seine Arbeitszeit ausweitet und Überstunden macht. Der Großteil der Hausarbeit wird dann wohl eher von der Frau erledigt.“
(c) DIW, 17.04.2024