Aufgrund eines überraschend schwachen zweiten Quartals senkt das DIW Berlin Wachstumsprognose für dieses Jahr leicht – In zweiter Jahreshälfte deutlich weniger Inflation und mehr Impulse durch Tarifabschlüsse – Flaute der chinesischen Wirtschaft bremst deutsche Exporte und Weltkonjunktur – Bundesregierung sollte umfangreiches Transformationsprogramm auf den Weg bringen
Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr als einzige große Volkswirtschaft leicht schrumpfen. Das geht aus der neuesten Konjunkturprognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hervor. Demnach haben vor allem ein schleppender Konsum der privaten Haushalte in Deutschland und schwächelnde Exporte, nicht zuletzt aufgrund der Flaute der chinesischen Wirtschaft, die Erholung hierzulande vorerst ausgebremst. Vor allem deshalb hat das DIW Berlin die Prognose für die deutsche Wirtschaft im Vergleich zum Sommer etwas nach unten angepasst. Nach der Winterrezession stagnierte die deutsche Wirtschaft im zweiten Quartal und wird im laufenden dritten Vierteljahr zunächst nur zaghaft wachsen. Unter dem Strich dürfte das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 0,4 Prozent sinken, weil das Minus aus dem ersten Quartal durch die langsame Erholung nicht wettgemacht werden kann. Ins kommende Jahr dürfte die deutsche Wirtschaft dann aber schwungvoll starten und im Gesamtjahr 2024 um voraussichtlich 1,2 Prozent zulegen. Für das Jahr 2025 prognostizieren die Konjunkturforscher*innen des DIW Berlin ebenfalls ein Wirtschaftswachswachstum von 1,2 Prozent. „Stärker ausfallende Lohn- und Gehaltszuwächse dürften die Kaufbereitschaft der Haushalte merklich verbessern und der Startschuss für den Erholungskurs der deutschen Wirtschaft sein“, sagt Geraldine Dany-Knedlik, Co-Leiterin des Bereichs Prognose und Konjunkturpolitik im DIW Berlin. Timm Bönke, Co-Leiter des Prognosebereichs im DIW Berlin, ergänzt: „Die Kauflaune der Haushalte dürfte auch von einer deutlich geringeren Inflation profitieren, allerdings kommt die exportorientierte deutsche Wirtschaft trotz anziehender Weltwirtschaft nur langsam in Fahrt.“
Stimmung im Dienstleistungssektor dürfte sich schon bald wieder aufhellen
Zwar einigten sich zuletzt vielerorts Gewerkschaften und Arbeitgeber, beispielsweise im öffentlichen Dienst und bei der Deutschen Bahn, auf größere Lohnerhöhungen, doch in den Portemonnaies der Arbeitnehmer*innen angekommen sind diese, abgesehen von Teilen der Sonderzahlungen wie der Inflationsausgleichsprämie, längst noch nicht überall. Die Sonderzahlungen wiederum dürften viele Haushalte zunächst auf die hohe Kante gelegt haben – jedenfalls ist die Sparquote jüngst deutlich gestiegen. Die Inflation zeigte sich zuletzt hartnäckig und wird auch im Jahresdurchschnitt 2023 auf hohem Niveau, bei voraussichtlich 6,1 Prozent, liegen. Zudem bestehen politische Unwägbarkeiten, beispielsweise durch die Hängepartie rund um das Gebäudeenergiegesetz, die die Anschaffungsneigung von Haushalten und auch Unternehmen bremsen.
Apropos Unternehmen: Nicht zuletzt angesichts der vorübergehend schwachen Auslandsnachfrage herrscht vor allem im Verarbeitenden Gewerbe schlechte Stimmung. Zuletzt verdüsterten sich die Aussichten auch im Dienstleistungssektor: Zum einen im unternehmensnahen Dienstleistungsbereich, dazu zählen etwa Transport und Logistik, wegen der derzeitigen Schwäche der deutschen Industrie. Zum anderen auch im konsumnahen Dienstleistungsbereich, da sich trotz Lohnsteigerungen und Sonderzahlungen insbesondere Menschen mit geringem Einkommen einen Restaurant- oder Hotelbesuch derzeit kaum leisten können. Dem neuen DIW-Prognosemodell zur Arbeitseinkommensverteilung zufolge dürfte die Ungleichheit der Arbeitseinkommen in Deutschland aktuell etwas höher ausfallen als noch im vergangenen Jahr.
Die DIW-Konjunkturprognose rechnet mit einer einsetzenden Erholung ab der zweiten Jahreshälfte. Zum Jahresende wird die deutsche Wirtschaft langsam wieder Fahrt aufnehmen. Wenn Löhne und Gehälter Anfang kommenden Jahres merklich steigen und die Inflation abnimmt, dürften vor allem die privaten Haushalte wieder ausgabefreudiger werden. Ende des kommenden Jahres wird die Inflation wohl wieder nahe des Ziels der Europäischen Zentralbank (EZB) von etwa zwei Prozent liegen. Zudem zeigt sich der Arbeitsmarkt nach wie vor robust. Weiter abschwächen wird sich hingegen im kommenden Jahr die Investitionsdynamik, denn aufgrund einer restriktiven Finanzpolitik werden die öffentlichen Investitionen die Investitionsflaute in der Industrie nicht länger ausgleichen können. Die Unternehmen dürften sich im Jahresverlauf weiter zurückhalten und auf eine Zinssenkung der EZB spekulieren, sobald die Inflation eingedämmt ist.
Zaghafter Aufschwung der Weltwirtschaft
Ähnlich wie die deutsche Wirtschaft ist auch die Weltwirtschaft im zweiten Quartal nicht in Schwung gekommen. Sie ist zwar um 0,7 Prozent gewachsen, damit aber weniger als im vorherigen Quartal. Vor allem die chinesische Wirtschaft hat mit der schwachen Binnennachfrage und dem strauchelnden Immobiliensektor Probleme. In Japan und den USA lief es hingegen besser als erwartet. Insgesamt dämpft die nur allmählich zurückgehende Inflation in Kombination mit den hohen Zinsen jedoch das weltwirtschaftliche Wachstum, das im Jahresdurchschnitt der DIW-Prognose zufolge bei 3,9 Prozent liegen dürfte. 2024 ist mit einem Wachstum in ähnlicher Größenordnung zu rechnen. Neben einem stärkeren privaten Verbrauch im Zuge abnehmender Preissteigerungen werden auch Programme wie der Inflation Reduction Act in den USA die Weltkonjunktur stützen. Ein breiter und kräftiger Aufschwung ist jedoch nicht in Sicht. Die globale Produktion wird nur allmählich an Tempo gewinnen.
DIW-Präsident Fratzscher: „Vertrauen schaffen statt Ängste schüren“
In Deutschland leistet die Finanzpolitik – anders als zum Beispiel in den USA – hingegen kaum einen Beitrag zur wirtschaftlichen Dynamik. „Eine Einhaltung der Schuldenbremse im Jahr 2024 ist in diesen Krisenzeiten nicht zu rechtfertigen und dürfte dazu führen, dass wichtige Zukunftsinvestitionen und Entlastungen von Bürger*innen und Unternehmen ausbleiben“, warnt DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Daher solle die Bundesregierung diese Priorität überdenken: Mit einem klugen Transformationsprogramm ließen sich sowohl Angebot als auch Nachfrage stärken, unter anderem indem die Politik Bürokratie und Regulierung abbaue, in Infrastruktur, Bildung und Forschung investiere und auf sozialen Ausgleich achte, so Fratzscher. „Die Stimmung ist derzeit schlechter als die Realität. Politik und Wirtschaft müssen aufpassen, dass sich wirtschaftliche Sorgen und Ängste nicht weiter hochschaukeln und zu einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale führen, bei der fehlendes Vertrauen Investitionen und Konsum weiter schwächt. Die Politik benötigt eine klare wirtschaftspolitische Agenda mit einer überzeugenden Kommunikation, die nicht länger Ängste schürt, sondern Vertrauen schafft.“
(c) DIW, 08.09.2023