Eine aktuelle Prognos-Studie im Auftrag der DIHK plädiert bei den Anstrengungen um zusätzliche Energiewende-Fachkräfte für einen breiten Lösungsansatz – auch jenseits sogenannter Klima-Berufe im engeren Sinn.
Das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ist äußerst ambitioniert. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es nicht nur neue Technologien und Innovationen, sondern vor allem gut qualifizierte Fachkräfte. Gleichzeitig bestehen Personalengpässe in vielen Wirtschaftsbereichen – und drohen die Energiewende in Deutschland stark zu bremsen. Allein für den Ausbau der Kernbranchen Solar, Wind und Wasserstoff sind bis zum Jahr 2030 insgesamt mehr als eine halbe Million Fachkräfte erforderlich. Dies ist eines der Kernergebnisse der neuen Studie zu „Fachkräftebedarf und Fachkräftegewinnung in der Transformation“, die von der Prognos AG im Auftrag der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) erstellt wurde.
„Viele Unternehmen gehen davon aus, dass die Transformation aufgrund des Fachkräftemangels länger dauern wird und die Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien nur teilweise erreicht werden können“, so Achim Dercks, stellvertretender DIHK-Hauptgeschäftsführer. Und er warnt gleichzeitig davor, sich bei den Strategien zur Fachkräftesicherung nur auf die Schlüsselbranchen und somit auf die landläufig als Klima- oder Transformations-Berufe bezeichneten Qualifikationsprofile zu fokussieren. Denn der Ausbau der erneuerbaren Energien ist von vielen Teilschritten in unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen abhängig. Daher können nicht nur Fachkräfteengpässe im Kerngeschäft der Energiebranche zu Verzögerungen führen, sondern auch in vielen weiteren „Nicht-Grünen“-Branchen und -Berufen.
„Entscheidend ist, dass wir bei der Ermittlung der Fachkräftebedarfe stets die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick nehmen“, erläutert Dercks. „Beispielsweise können Fachkräfteengpässe in den Bereichen Logistik und Transport oder Planung und Administration die notwendige Transformation der Wirtschaft insgesamt gefährden. Konkret heißt das: Der Aufbau von Windkraftanlagen kann sich verzögern, weil LKW-Fahrer fehlen.“
Der Blick auf die in der Studie untersuchten Wertschöpfungsketten Solar, Wind und Wasserstoff zeigt, dass rund 250 Berufe relevant sind – von dual ausgebildeten Kaufleuten über Industriemeister bis hin zu Ingenieuren –, um die Klima- und Transformationswende zu gestalten. „Der Weg in Richtung Klimaneutralität erfordert qualifiziertes Personal. Insbesondere die Berufliche Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle, denn rund zwei Drittel der relevanten Fachkräfte benötigen eine berufliche Qualifikation“, betont Dercks. Dass diese Stellschraube intensiv genutzt werden muss, zeigt ein weiteres Ergebnis der Studie: In den 250 Berufen, die für die Transformation relevant sind, fehlen branchenübergreifend bis 2035 rund 560.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Der Wettbewerb um kluge Köpfe wird sich noch weiter verschärfen und somit ein zusätzliches Risiko für eine erfolgreiche Energiewende darstellen.“
Die Studie zeigt, dass die branchenübergreifende Fachkräftesicherung ein bisweilen unterschätzter Schlüsselfaktor für die erforderlichen Transformationsprozesse ist. „Gelingt es uns nicht, den Fachkräftemangel entlang der relevanten Wertschöpfungsketten in den Griff zu bekommen, sind die Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien eher eine Utopie, denn ein realistisches Zukunftsszenario“, fasst Dercks die Studienbefunde zusammen. Mittelfristig gefährdet dies auch die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit sowie die Standortattraktivität der deutschen Wirtschaft insgesamt. „Die gute Nachricht ist: Mit den vielfältigen und innovativen Angeboten der Beruflichen Bildung verfügen wir über ein wirkungsvolles Instrumentarium, um dem Fachkräftemangel entlang der relevanten Wertschöpfungsketten entgegenzuwirken.“
Was zu tun ist, um die notwendigen Fachkräfte für die Transformation zu gewinnen
Es gilt, bereits in den Schulen die richtigen Weichen zu stellen. Eine frühzeitige, umfassende und praxisnahe Berufsorientierung ist das A und O. Dabei sollten Kinder, Jugendliche sowie auch deren Eltern die große Bandbreite der Berufs- und Tätigkeitsfelder kennenlernen, die für die Transformation relevant sind. Nach wie vor konzentriert man sich aber bei dem Versuch, junge Leute für eine entsprechende Ausbildung zu begeistern, auf einige wenige umwelttechnische Berufe oder den Bereich Sanitär, Heizung und Klima. Zeigt man hingegen auf, dass auch Fachkräfte im Büromanagement oder in der Logistik einen unverzichtbaren Beitrag zur Klimaneutralität leisten, so könne man eine viel breitere Zielgruppe erreichen und größere Fachkräftepotenziale heben.
Ohnehin ist der Fokus auf vermeintlich grüne Berufe bei der Fachkräftesicherung für die Transformation zu verengt. Dies gilt auch für die duale Berufsausbildung: Nachhaltigkeit und nachhaltiges Handeln sollen künftig in jeder Ausbildung vermittelt werden – junge Leute sollen lernen, wie sie selbst durch ihr berufliches Handeln zur Transformation beitragen können. Diese Fähigkeit ist zunehmend integraler Bestandteil der beruflichen Handlungskompetenz. Und wenn es gelingt, auf diese Weise noch mehr junge Leute für die duale Berufsausbildung zu begeistern, gewinnen die Betriebe, die für die Transformation dringend benötigen Fachkräfte mit beruflicher Qualifikation.
Eine weitere Möglichkeit, fachlich fit für die Transformation zu werden und eventuell auch schrittweise einen Berufsabschluss zu erlangen, sind Teilqualifizierungen. Diese modular aufgebauten Angebote orientieren sich an anerkannten Ausbildungsberufen und sind insbesondere für Geringqualifizierte eine echte Chance. Mittels Teilqualifizierungen kann es gelingen, Beschäftigtenpotenziale in bisher weniger beachteten Personengruppen für die Transformation zu heben.
Hilfreich sind in der Beruflichen Bildung auch interdisziplinäre Zusatzqualifikationen, die als passgenaue Ergänzungen zu einer dualen Berufsausbildung erworben werden können. Für ausgewählte Berufe, die in den Wertschöpfungsketten Wind, Photovoltaik und Wasserstoff zentral sind, existiert bereits heute ein breites Angebot. Ganz aktuell hat die IHK-Organisation in Zusammenarbeit mit Betrieben die neue Zusatzqualifikation Wasserstoff entwickelt.
Eine zentrale Rolle für das Erreichen der Klimaziele spielen die bewährten Abschlüsse der Höheren Berufsbildung, wie Industriemeister oder Fachwirte. Diese stehen für einen breiten Qualifizierungsansatz. So werden beispielsweise in der Logistik, dem Güterverkehr oder in der Produktionssteuerung Kompetenzen rund um die Nachhaltigkeitsdimensionen vermittelt – und erlauben einen breiten Einsatz der Absolventen entlang der zentralen Wertschöpfungsketten. Für das Erreichen der Klimaziele ist es also unabdingbar, auch die Höhere Berufsbildung mit ihren wertigen und praxisnahen Abschlüssen weiter zu stärken. Es wäre daher gut, wenn die auf den Weg gebrachten Verbesserungen beim Aufstiegs-BAföG noch verabschiedet würden.
Und die berufliche Weiterbildung hat noch mehr zu bieten: So sind zum Beispiel bundeseinheitliche IHK-Zertifikatslehrgänge ein bewährtes Instrument, um kurzfristige und zugleich spezifische Qualifizierungsbedarfe in den Betrieben zu decken. Angebote wie beispielsweise „Fachexperte für Wasserstoffanwendungen (IHK)“ oder „Betrieblicher Klimamanager (IHK)“ unterstützen die Beschäftigten dabei, betriebliche Transformationsprozesse kompetent zu gestalten.
Angesichts des demographischen Wandels gilt es, weitere Ressourcen zu nutzen. Dabei spielt die Gewinnung qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland eine wichtige Rolle. Für die Zuwanderung aus Drittstaaten sind schlankere, schnellere und bürokratiearme Verwaltungsverfahren von großer Bedeutung. Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz bietet gute Ansätze, muss sich jedoch nun in der Praxis bewähren.
Zudem ist es wichtig, die Potenziale einer umfangreicheren Erwerbstätigkeit von Frauen wie auch von älteren Beschäftigten für die Transformation noch stärker zu heben. Für ersteres ist insbesondere eine gelungene Vereinbarkeit von Familie und Beruf von großer Relevanz. Hier steht vor allem der weitere Ausbau eines flexiblen und qualitativ hochwertigen Angebotes an Kinderbetreuung im Vordergrund. Mit Blick auf eine stärkere Beschäftigung Älterer sollten Anreize zum frühzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben – wie etwa die Rente für besonders langjährig Versicherte – konsequent abgebaut werden. Darüber hinaus sollte eine unbürokratische Weiterbeschäftigung von Rentnern etwa mit Blick auf Befristungsmöglichkeiten möglich werden. Zudem wäre eine Kopplung des allgemeinen Renteneintrittsalters an die Entwicklung der Lebenserwartung sinnvoll.
Hier gehts zur Studie: Defossilisierung und Klimaneutralität
DIHK, 10.12.2024