„Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“ Diesen Artikel 38 Absatz 2 des Grundgesetzes müsste der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit ändern, wenn das aktive Wahlalter von jetzt 18 auf 16 Jahre abgesenkt werden sollte. Die am 16. März vom Bundestag eingesetzte Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit hat sich am Donnerstagabend ausgiebig mit Argumenten für und gegen eine solche Absenkung des aktiven Wahlalters auseinandergesetzt. Einig waren sich die 13 Abgeordneten und 13 Sachverständigen darin, dass der Verfassungsgesetzgeber frei wäre, eine solche Entscheidung zu treffen. 16-Jährige dürfen in einigen Bundesländern bereits den Landtag wählen, zuletzt senkte der Landtag Baden-Württemberg in diesem Monat das aktive Wahlalter von 18 auf 16.
In der Aussprache ging es auch um die Frage, wie es um die Urteils- und Einsichtsfähigkeit von 16- bis 18-Jährigen bestellt ist, verantwortungsbewusst eine Wahlentscheidung bei Bundestags- und auch bei Europawahlen zu treffen. Till Steffen, Obmann der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, erinnerte an das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Jahr, das dem Gesetzgeber die „intertemporale Freiheitssicherung“ auferlegte, wonach heutige politische Entscheidungen mit einer Sorgfaltspflicht für künftige Generationen verbunden sind. Auch werde 16-jährigen Schülerinnen und Schülern das Wissen zugetraut, wie die parlamentarische Demokratie funktioniert.
Dem unter anderem von AfD-Obmann Albrecht Glaser vorgebrachten Argument der beschränkten Geschäfts- und Deliktsfähigkeit von 16-Jährigen und dem daraus folgenden „Wertungswiderspruch“ hielt Steffen entgegen, dass 16-Jährige durchaus den Führerschein für „gefährliche Fahrzeuge“ machen dürften und dass das Jugendstrafrecht keineswegs milder sei als das Erwachsenenstrafrecht.
SPD-Obmann Sebastian Hartmann erinnerte an die letzte Senkung des aktiven Wahlalters von 21 auf 18 Jahre vor 52 Jahren. Seither habe sich die Wahlbevölkerung massiv verändert. Wurden Frauen damals im Schnitt 74 und Männer 67,5 Jahre alt, so liege die durchschnittliche Lebensdauer von Frauen heute bei 84 und von Männern bei 79 Jahren. Der Anteil älterer Wählerinnen und Wähler sei also gestiegen. Sich vor einer Wahlentscheidung zu informieren, sei heute viel leichter möglich. Die SPD werde deutlich für die Absenkung des aktiven Wahlalters bei Bundestags- und Europawahlen eintreten, sagte Hartmann: „Wir reden über 1,3 Millionen Wahlberechtigte.“
Der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor, stellvertretendes Kommissionsmitglied, sprach von einem beachtlichen Widerspruch, wenn das Wahlrecht als „vornehmstes Recht“ verliehen werde, Handy- oder Mietverträge aber nicht abgeschlossen werden könnten. Die Sachverständige Professorin Stefanie Schmahl verwies darauf, dass in den siebziger Jahren nach der Absenkung des aktiven Wahlalters mit Wirkung ab 1. Januar 1975 auch die Volljährigkeit auf 18 Jahre abgesenkt wurde. Eine Wiederholung dieser Entwicklung nach einer künftigen Absenkung sei nicht zwangsläufig, aber auch nicht unwahrscheinlich. Zudem machte sie klar, dass die Schutzwirkung der UN-Kinderrechtskonvention mit dem Eintritt der Volljährigkeit endet.
FDP-Obmann Konstantin Kuhle argumentierte, dass bei vier- oder fünfjährigen Wahlperioden manche Jungwähler erst im Alter von 22 Jahren zur Urne gehen könnten, manche vielleicht schon mit abgeschlossenem Bachelor-Studium. Gerade diese Altersgruppe sei empfänglich für politisches Engagement. Jede Stichtagsregelung führe dazu, dass Personen in das Wahlalter hineinwachsen, entgegnete der Sachverständige Professor Rudolf Mellinghoff.
Kuhle stimmte dem Sachverständigen Professor Robert Vehrkamp zu, der gesagt hatte, dass politisches Interesse zu politischer Partizipation führt. Die erste Wahlbeteiligung sollte in die Schulzeit gelegt werden. Vehrkamp sieht darin eine „enorme Chance“, Interesse für die Demokratie und das Wählen zu erzeugen. Für Konstantin Kuhle ist der demografische Wandel ein weiteres Argument für ein abgesenktes Wahlalter. „Wir erleben eine wachsende Stimmmacht älterer Menschen“, sagte der FDP-Abgeordnete. Ein paar Stimmen mehr würden dazu beitragen, die Belange jüngerer Menschen mehr im Blick zu haben. Petra Pau, Obfrau der Linken, fragte, welcher Schaden drohen könnte, wenn ein 16-Jähriger abstimmt.
Bei der Frage der Einsichts- und Urteilsfähigkeit der 16- bis 18-Jährigen berichtete der Sachverständige Professor Bernd Grzeszick über eine Studie aus Österreich, wonach die dortige Senkung des Wahlalters nicht zu einem Schubeffekt für politisches Wissen und zu einer besseren Wahlbeteiligung in dieser Altersgruppe geführt hat. Grzeszick argumentierte, der politische Prozess würde delegitimiert, wenn Personen mitwirken, die nicht die erforderliche Reife mitbringen. Wenn jemand an einer Wahl teilnehme, der sinnvoll nicht seine Stimme abgeben könne, beschädige dies den politischen Prozess.
Die Sachverständige Professor Jelena von Achenbach sprach sich dagegen aus, an 16-bis 18-Jährige höhere Anforderungen zu stellen als an andere Altersgruppen. Robert Vehrkamp warnte gar vor einer „empirischen Diskussion“. Wie politisch interessiert jemand sei, sei „irrelevant“.
Quelle: Deutscher Bundestag, HiB Nr. 202 vom 29. April 2022