Sachverständige und Abgeordnete haben am Montag lang und intensiv in einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses über eine mögliche Neuregelung des assistierten Suizids und der Sterbebegleitung debattiert. Grundlage der Anhörung waren drei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe von Abgeordnetengruppen in Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020. Das Gericht hatte das 2015 beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe in Paragraf 217 des Strafgesetzbuches für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Ein zweiter Teil der Anhörung befasst sich mit einem Antrag zur Suizidprävention.
Zum ersten Teil der Anhörung waren elf Sachverständige geladen, zum zweiten Teil fünf. Im ersten Teil der Anhörungen äußerten sich Vertreterinnen aus Medizin, Rechtswissenschaft, Medizinethik sowie der Hospizarbeit. Thematisch ging es vor allem um die allgemeine rechtliche Bewertung der Entwürfe vor dem Hintergrund des Verfassungsgerichtsurteils, die Einordnung der unterschiedlichen Beratungskonzepte sowie die Bedeutung von Suizidprävention.
Von den fünf geladenen Sachverständigen mit juristischem Hintergrund sprachen sich vier gegen den Gesetzentwurf der Gruppe von 85 Abgeordneten um Lars Castellucci (SPD) (20/904) aus.
Rechtsanwalt Christoph Knauer, Vorsitzender des Ausschusses Strafprozessrecht der Bundesrechtsanwaltskammer, prognostizierte, dass der Castellucci-Entwurf vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben würde. Die vorgeschlagene Regelung enge die reale Zugangsmöglichkeit zum assistierten Suizid, den das Gericht angemahnt hatte, zu sehr ein, argumentierte Knauer. Das vorgesehene Beratungs- und Untersuchungsverfahren sei eine „Überregulierung“ und konterkariere die Vorgaben des Gerichts, führt der Jurist weiter aus.
Ähnliche Argumente brachte die Rechtsanwältin Gina Greeve für den Deutschen Anwaltsverein gegen den Castellucci-Entwurf in Stellung. Der Entwurf sei nicht vereinbar mit den verfassungsgerichtlichen Vorgaben, sagte Greeve. Durch die strafrechtliche Regelung würde ein freiverantwortlich gefasster Sterbewunsch faktisch ins Leere laufen und unterbunden, kritisierte Greeve.
Der Rechtswissenschaftler Karsten Gaede (Bucerius Law School, Hamburg) betonte, es gebe keine „verfassungsrechtliche Schutzpflicht“, die erneut eine allumfassende Strafrechtsnorm erzwinge. Die im Castellucci-Entwurf vorgesehenen Regelungen drohten vielmehr alle Beteiligten zu überfordern.
Wie auch andere Sachverständige betonte der Rechtswissenschaftler Helmut Frister (Heinrich Heine Universität Düsseldorf) die Notwendigkeit einer Regulierung in dem Bereich. Das gelte etwa für den Schutz vor nicht freiverantwortlichen Suizidentscheidungen in Form einer Verpflichtung auf ein Verfahren zur Feststellung der Freiverantwortlichkeit. Dieses Verfahren müsse notwendigerweise schlank ausgestaltet werden. In seiner schriftlichen Stellungnahme kritisierte Frister am Castellucci-Entwurf „teilweise überzogenen Verfahrensanforderungen“. Ob sich der Entwurf damit im Bereich der Verfassungswidrigkeit bewegt, wollte Frister in der Anhörung nicht beurteilen.
Der Rechtswissenschaftler Arndt Sinn (Universität Osnabrück) argumentierte hingegen, dass der Entwurf den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspreche und einen legitimen Zweck, nämlich die Autonomie der suizidwilligen Person und das Rechtsgut Leben zu schützen, verfolge. Er regte allerdings eine regelungstechnische Änderung an. Sinn führte aus, dass es aktuelle viel Unklarheit in dem Bereich gebe. Der Castellucci-Entwurf würde nicht über die geltende Rechtslage hinausgehen, aber zu mehr Transparenz über Gebote und Verbote führen. Dem Vorwurf, es gehe im Kern nicht um das Strafrecht, wies Sinn zurück. Am Ende stelle sich jeder Hilfswillige die Frage nach Strafbarkeit, sagte Sinn.
Der Rechtswissenschaftler übte zudem Kritik an den beiden anderen Entwürfen – sie blieben hinter dem Schutzkonzept des Castellucci-Entwurfes zurück. Der Entwurf der Gruppe von 68 Abgeordneten um Katrin Helling-Plahr (FDP) (20/2332) sehe nur ein Recht auf Beratung vor. Damit werde der Schutz der autonomen Entscheidung nicht abgedeckt, es werde nicht sichergestellt, dass ein freiverantwortlicher Wille vorliegt, argumentierte Sinn. Mit Blick auf den Entwurf der 45 Abgeordneten um Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) (20/2293) kritisierte der Rechtswissenschaftler die darin in einer bestimmten Konstellation vorgesehene Behördenentscheidung. Das sei eher abschreckend, als dass damit der Autonomie zur Geltung verholfen werde, sagte der Jurist.
Der Rechtswissenschaftler Gaede argumentierte hingegen, dass es jenseits behandlungsbedürftiger Erkrankungen keinen Grund gebe, eine alleinige Entscheidung der Ärzteschaft über die Verschreibung tödlich wirkender Medikamente vorzusehen und kritisierte damit die Entwürfe der Gruppen Castellucci und Helling-Plahr. Das im Künast-Entwurf vorgesehen Kriterium einer medizinischen Notlage, die den Einbezug von Ärztinnen und Ärzten vorsieht und in andere Fällen einen Einbezug von Behörden, sei hingegen praktikabel, sagte Gaede. Ähnlich argumentierte die Vertreterin des Deutschen Anwaltsvereins. Die Differenzierung sei – auch hinsichtlich des Urteils des Verfassungsgerichts – zulässig und erforderlich, meinte Greeve.
Kritischer sah die Unterscheidung zwischen schwerkranken Suizidwilligen und nicht-schwerkranken der Rechtsanwalt Knauer. Dies sei nicht vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts gedeckt. Wie auch der Rechtswissenschaftler Frister sah Knauer die Einbindung von Behörden eher kritisch.
Die beiden Sachverständigen mit medizinischem Hintergrund sprachen sich insbesondere für eine stärkere Suizidprävention aus. Ute Lewitzka (Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden) sagte, es brauche „vor einer Regelung der Suizidassistenz dringend eine Regelung der Suizidprävention im Sinne einer gesetzlichen Regelung.“ In ihrer Stellungnahme stellte sie sich hinter die im Castellucci-Entwurf vorgesehene mindestens zweimalige Beratung von Sterbewilligen durch Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie.
Barbara Schneider (LVR-Klinik Köln) argumentierte aus der Perspektive der Suizidologie. Sie führte aus, dass Menschen in suizidalen Krisen in ihrer Wahrnehmung und Entscheidungsfindung eingeschränkt seien. Das bedeute aber nicht, dass ihre Freiverantwortlichkeit eingeschränkt sei. Darum bedürfe es eines Schutzkonzeptes für Menschen in suizidalen Krisen. Die bislang vorgestellten Konzepte für die Beratung sehe sie kritisch, führte Schneider aus. Menschen, die einen Suizid in Erwägung ziehen, bräuchten keine kurzen Gespräche, sondern langfristige Angebote und einfühlsame, vertrauensvolle, psychosoziale und gegebenenfalls therapeutische Begleitung, sagte die Chefärztin der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen.
Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands, und Kerstin Kurzke, Leiterin der Hospiz- und Trauerarbeit des Malteser Hilfsdiensts in Berlin, sprachen sich vor allem dafür aus, dass Träger des Gesundheits- und Sozialwesen nicht dazu gezwungen werden dürften, Suizidhilfe in ihren Einrichtungen durchzuführen beziehungsweise zu dulden. Beide berichteten zudem aus ihrer Berufspraxis und forderten eine deutliche Stärkung der Palliativ- und Hospizarbeit sowie der Suizidprävention.
Aus medizinethischer Sicht beschrieb Bettina Schöne-Seifert (Universität Münster) den grundsätzlichen Konflikt in der Debatte. Sie sprach sich ferner für eine Beratungspflicht aus und betonte die Notwendigkeit, Ärztinnen und Ärzte in den Prozess einzubeziehen.
Der Sachverständige Maximilian Schulz schilderte seine Sicht auf die Sterbehilfe, zu der auch öffentlich im „Spiegel“ Stellung bezogen hatte. Er sprach sich für einen möglichst einfachen und ungehinderten Zugang aus und unterstütze den Entwurf der Gruppe Helling-Plahr. „Die ideale Sterbehilfe bedeutet für mich Lebensqualität! Sie schenkt mir Zeit, die ich nicht darauf verwenden muss, die Art und den Zeitpunkt eines würdigen Todes entweder strafrechtlich abzustimmen oder von meiner medizinischen Notlage abhängig machen zu müssen“, sagte Schulz.
Quelle: Deutscher Bundestag, HiB Nr. 696 vom 29. November 2022