Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) sieht im Krieg in der Ukraine auch einen „Kampf der Systeme, der Demokratie gegen die Autokratie“. Die „Diktatur Russlands“ greife ein demokratisches Land an,  das sich „intensiv auf den Weg der Demokratie gemacht“ habe und dafür auch sehr viele selbst gestellte Aufgaben wie die Korruptionsbekämpfung erfülle, sagte Göring-Eckardt der Wochenzeitung „Das Parlament“. Dass in der Ukraine  Freiheitsrechte verteidigt werden, liege auf der Hand. Wenn man mit Ukrainerinnen und Ukrainern rede, gehe es ihnen darum, „dass sie die Freiheitsrechte, die demokratische Verfassung hoch schätzen, dass sie sie verteidigen – trotz aller Gefahr für Leib und Leben, dass sie nie wieder in einer Diktatur landen wollen, wie es viele in der Sowjetunion erfahren haben“.
Die Grünen-Parlamentarierin bekräftigte zugleich, dass es dabei auch „um unsere Sicherheit“ gehe. Wenn Russland merke, dass es die Ukraine angreifen und Territorien ohne Widerstand besetzen könne, sei das „natürlich auch eine Einladung in Richtung anderer Länder der Europäischen Union und der Nato“.


Das Interview im Wortlaut:

Das Parlament: Frau Göring-Eckardt, Sie waren erst vor wenigen Wochen in der Ukraine und sagten im Februar, das Land verteidige nicht nur sich selbst, sondern auch unsere Freiheit und Sicherheit. Was hat denn der Krieg in der Ukraine mit unserer Freiheit zu tun?
Göring-Eckardt: Es geht dabei ja auch um einen Kampf der Systeme, der Demokratie gegen die Autokratie: Die Diktatur Russlands greift ein demokratisches Land an – ein Land, das sich intensiv auf den Weg der Demokratie gemacht hat und dafür auch sehr viele selbst gestellte Aufgaben erfüllt, zum Beispiel die Korruptionsbekämpfung. Wir wissen, dass die Ukraine Teil der europäischen Familie ist. Dass dort die Freiheitsrechte verteidigt werden, liegt auf der Hand. Wenn man mit Ukrainerinnen und Ukrainern redet, besonders mit jungen Leuten, geht es ihnen darum, dass sie die Freiheitsrechte, die demokratische Verfassung hoch schätzen, dass sie sie verteidigen – trotz aller Gefahr für Leib und Leben, dass sie nie wieder in einer Diktatur landen wollen, wie es viele in der Sowjetunion erfahren haben. Und warum es auch um unsere Sicherheit geht? Wenn Russland merkt, dass es die Ukraine angreifen und Territorien ohne Widerstand besetzen kann, ist das natürlich auch eine Einladung in Richtung anderer Länder der Europäischen Union und der Nato.

Das Parlament: Sie sagten, das Land hat sich auf den Weg zur Demokratie gemacht. Die Bilder vom Maidan in Kiew 2014, als der Platz voller Demonstranten war, erinnern auch die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 in Leipzig, als Zehntausende auf die Straße gingen, ohne zu wissen, ob sie damit Freiheit oder Leben riskieren. Sehen Sie auch solche Parallelen? 
Göring-Eckardt: Es gab schon 2004 auf dem Maidan die Orangene Revolution, bei der zum ersten Mal junge Leute demokratische Entwicklungen in der Ukraine eingefordert haben. Das war schon zehn Jahre vor dem Euromaidan von 2014 – den Weg Richtung Demokratie ist die Ukraine also schon viel länger gegangen. Ich stand 2004 und 2014 auf dem Maidan, und natürlich war das für mich mit Erinnerungen getränkt an die Demonstrationen am Ende der DDR, ob in Leipzig, in Berlin, in Plauen, in Erfurt bei mir zu Hause. Da gab es einen Moment, an dem sich zu einer kleinen Gruppe Oppositioneller die Menschen drumherum mit auf den Platz stellten. Einige hatten einen Einkaufsbeutel, sind also nach dem Einkaufen mit zur Demonstration gegangen. Das wurde so zur Massenbewegung, die nicht mehr in der Diktatur leben wollte, sondern in Freiheit.

Das Parlament: Damals hieß es noch „Wir sind das Volk“; später dann „Wir sind ein Volk“ – da wurde der Ruf nach der Vereinigung mit der Bundesrepublik laut. Lockte da mehr das Freiheitsversprechen des Grundgesetzes oder die Wohlstandsverheißung der D-Mark?
Göring-Eckardt: Es war mit Sicherheit beides. Ich gehörte zu der Zeit zu denen, die es erstmal mit einem eigenständigen, dritten Weg versuchen wollten, weil ich fand, dass es große Vorteile haben kann, demokratische Strukturen auszuhandeln und zu entwickeln. Es ist anders gekommen, und das Wohlstandsversprechen war natürlich für viele sehr relevant – wobei es manchmal auch eine etwas undifferenzierte Wahrnehmung dieses westdeutschen Wohlstands gab. 

Das Parlament: Die Bundesrepublik war in den Jahren der Teilung immer auch der Gegenentwurf zur DDR – und umgekehrt. Hat das Grundgesetz mit seinen Freiheitsgarantien auch den Herrschaftsanspruch der SED in Frage gestellt?
Göring-Eckardt: Ja, natürlich, das hat es. Die SED war nicht nur die Staatspartei, sondern nahm für sich in Anspruch, zu wissen, was gut für die Leute ist. Dieses „Wir wissen, was euer Weg ist“, dieses „Wir entscheiden, ob du Abitur machen darfst und was du studieren darfst“, „Wir entscheiden, in welche Länder du reisen darfst und welche Bücher du lesen darfst“ – das hat alles nichts mit den ersten Artikeln des Grundgesetzes zu tun, in denen es um die Würde und Freiheit des Einzelnen geht bis hin zur gelebten Religionsfreiheit. Das Grundgesetz hat in jeder Hinsicht dem widersprochen, was die SED für sich in Anspruch genommen hat.

Das Parlament: 1990 ging es dann darum, ob die DDR dem Grundgesetz beitritt oder eine neue Verfassung für ganz Deutschland erarbeitet und zur Abstimmung gestellt werden soll. War es eine verpasste Chance, auf eine solche gesamtdeutsche Verfassung zu verzichten?
Göring-Eckardt: Auf der einen Seite war es schwer, einen solchen Weg gehen zu wollen, weil sehr viele nationale und internationale Fragen in sehr kurzer Zeit geklärt werden mussten und Handlungsfenster drohten kleiner zu werden. Auf der anderen Seite sage ich klar, dass es eine Chance war, die wir hätten nutzen sollen. Denn das hätte auch dazu geführt, dass sich die alte Bundesrepublik nochmal fragt, ob sie unverändert so weitermachen will. Und es hätte einen Aushandlungsprozess darüber gegeben, was man gemeinsam wichtig findet. Im damaligen Verfassungsentwurf des Runden Tisches sind Elemente enthalten, über die wir bis heute diskutieren.

Das Parlament: Zum Beispiel? 
Göring-Eckardt: Zum Beispiel die Frage des Rechts auf Arbeit oder des Rechts auf Wohnen. Aber auch die Frage direkter Demokratie. Direktdemokratische Elemente wurden dann abgetan, und jetzt lernen wir mühsam als Bundesrepublik gemeinsam – bis hin zu den Bürgerräten, die wir gerade einführen –, dass direktdemokratische Elemente total sinnvoll sind, um Akzeptanz für gemeinsam vorbereitete Entscheidungen zu schaffen. 

Das Parlament: Die Erfahrung von Unfreiheit und Unterdrückung steckte auch den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates in den Knochen, die Weltkrieg und zwölf Jahre NS-Diktatur hinter sich hatten. Ist das dem Grundgesetz noch anzumerken?
Göring-Eckardt: Auf jedem Fall ist das dem Grundgesetz anzumerken. Die Machtkonzentration auf eine Person oder Institution hat zuvor eine sehr große Rolle gespielt. Mit dieser Geschichte im Rücken lässt sich die parlamentarische Vielfalt und Ländervielfalt besser verstehen als wenn man nur das Gefühl hat, alles müsse mehrfach beraten werden, um die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bringen.

Das Parlament: Für uns ist es heute selbstverständlich, mit einer Verfassung zu leben, die elementare Freiheitsrechte garantiert. Machen wir uns zu wenig klar, dass diese Rechte früher auch hierzulande blutig erstritten werden mussten?
Göring-Eckardt: Der Blick in unsere Geschichte zeigt, wie dankbar wir für unsere heutigen Freiheiten sein können. Dass heute wieder so viele Demokratiefeinde und Demokratieverächter in unserem Land laut sind und entsprechende Wahlergebnisse erzielen, lässt schon manchmal fragen, ob einige diese Geschichte vergessen haben. Vor allem aber folgt daraus, dass wir wissen müssen, dass Demokratie auch heute jeden Tag verteidigt werden muss. Manchmal geht es dabei um Widerspruch bei rassistischen Sprüchen auf der Familienfeier, ein anderes Mal um knallharte Strafverfolgung, wenn Demokratiefeinde illegal Waffen horten. Das Parlament: Nochmal zu den Parallelen zwischen den Demonstrationen auf dem Maidan und den Montagsdemos in der DDR. Solche Parallelen gibt es auch zu heutigen Freiheitsbewegungen. Erwachsen daraus auch Verpflichtungen für uns?
Göring-Eckardt: Dass wir es mit einer friedlichen Revolution geschafft haben, lag an denen, die sie gemacht haben, aber auch daran, dass wir international unter massiver Beobachtung standen. Wenn man jetzt diejenigen überall auf der Welt sieht, die heute unter Lebensgefahr die Demokratie verteidigen oder erringen wollen, ist es für uns eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dort solidarisch zu sein und zu unterstützen, wo wir können und es gewollt ist. Das ist eine Grundverpflichtung für uns, die wir in Freiheit und Demokratie leben dürfen.

Quelle: Deutscher Bundestag, Pressemitteilung vom 6. April 2023

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