Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff bedauert, dass sich die Bundesregierung gegen die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats entschieden hat. „Das ist ein Mangel“, sagte Lambsdorff im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Die am Mittwoch vom Kabinett beschlossene Nationale Sicherheitsstrategie „hätte auch institutionell umgesetzt werden müssen“, erklärte er. Alle wichtigen Partner hätten einen solchen Nationalen Sicherheitsrat, Deutschland sei hier eine Ausnahme. Allerdings gebe seine Partei das Ziel nicht auf, beteuerte Lambsdorff: „Die FDP, die den gesamten Prozess ja aufs Gleis gesetzt hat, die Rat und Strategie im Wahlprogramm hatte und dann noch in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hat, wird weiterhin daran arbeiten, einen solchen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten.“
Das Interview im Wortlaut:
Das Parlament: Herr Lambsdorff, bisher haben Bundesregierungen von Zeit zu Zeit ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik erarbeitet. Jetzt hat die Regierung eine Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen. Was ist daran anders?
Lambsdorff: Die Nationale Sicherheitsstrategie ist unter Beteiligung des Bundeskanzlers, aller Bundesministerien sowie der Bundesländer entstanden. Sie ist damit umfassender als die Weißbücher, die sich relativ eng auf Verteidigungs- und Sicherheitspolitik konzentriert haben.
Das Parlament: Beißt sich eine Nationale Sicherheitsstrategie nicht mit Bestrebungen auf EU-Ebene, eine geopolitische Strategie und eine Politik der integrierten Sicherheit zu entwickeln?
Lambsdorff: Im Gegenteil. Europäische Partner wie Franzosen und Spanier haben auch ihre eigenen nationalen Sicherheitsstrategien formuliert. In den 2000er Jahren wurde eine Europäische Sicherheitsstrategie erarbeitet, die mit dem Strategischen Kompass 2022 aktualisiert worden ist. Entscheidend ist, dass sich die Sicherheitsstrategien zur Stärkung der Europäischen Union bekennen. Die deutsche tut das völlig eindeutig, insofern ist da kein Widerspruch.
Das Parlament: Im Koalitionsvertrag von 2021 heißt es: „Wir werden im ersten Jahr der neuen Bundesregierung eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen.“ Jetzt hat es deutlich länger gedauert. Was waren die Gründe für die Verzögerung?
Lambsdorff: Diejenigen, die die deutsche Sicherheitsstrategie wollten, haben sich an das Vorgehen in den USA angelehnt. Dort wird die Strategie alle vier Jahre aktualisiert, mit klarem Fokus auf außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen. Aber im Laufe der Erarbeitung hier in Berlin wurde deutlich, dass der Sicherheitsbegriff breiter verstanden wird und Aspekte der inneren Sicherheit hinzukamen. Insofern haben auch das Innenministerium und die Bundesländer eine stärkere Rolle gespielt, als sie es in den USA bei der Strategie-Erarbeitung tun. Das hat den Prozess verlangsamt, es war aber gleichzeitig eine enorm wichtige Lernerfahrung. Wenn bei Amtsantritt der nächsten Bundesregierung eine dann neue Sicherheitsstrategie entwickelt wird, weiß man schon, wer zu beteiligen ist.
Das Parlament: Es gab aber doch auch Kompetenzgerangel, manche sagen auch Eifersüchteleien zwischen den beteiligten Ressorts, die zu einer Verzögerung geführt haben.
Lambsdorff: Das ist, glaube ich, normal. Und natürlich ist die Erarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie kein Vorgang, bei dem man sämtliche Kompetenzstreitereien zwischen Ministerien wie auch zwischen verschiedenen Ebenen des politischen Systems der Bundesrepublik auflösen kann. Insofern: Ja, es hat Gerangel gegeben, aber das ist in Berliner Prozessen völlig normal. Am Ende ist entscheidend: Gibt es ein Ergebnis? Und da lautet die Antwort: Ja.
Das Parlament: Von Vielen sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Politik war im Vorfeld gefordert worden, einen Nationalen Sicherheitsrat zu schaffen, gerade angesichts der aktuellen Lage. Dazu kommt es jetzt nicht. Wie sehr bedauern Sie das?
Lambsdorff: Das bedauere ich und das ist ein Mangel. Die Nationale Sicherheitsstrategie hätte auch institutionell umgesetzt werden müssen. Alle unseren wichtigen Partner haben einen solchen Nationalen Sicherheitsrat, Deutschland ist hier eine Ausnahme. Die FDP, die den gesamten Prozess ja aufs Gleis gesetzt hat, die Rat und Strategie im Wahlprogramm hatte und dann noch in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hat, wird weiterhin daran arbeiten, einen solchen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten.
Das Parlament: Zu China enthält das Dokument wenig, hierzu soll irgendwann eine separate Chinastrategie der Bundesregierung vorgelegt werden. Aber ist eine Nationale Sicherheitsstrategie, welche eine der größten Herausforderungen weitgehend ausklammert, nicht ein Torso?
Lambsdorff: Die Nationale Sicherheitsstrategie versteht sich ausdrücklich als Dachstrategie. Sie setzt in Bezug auf China, aber auch in Bezug auf Russland und andere Länder und Regionen den Ton. Sie ist aber nicht gleichbedeutend mit der konkreten Politik, diese wird in Einzelstrategien im Detail ausgearbeitet. Interessant ist daher, wie die Nationale Sicherheitsstrategie das Thema China intoniert, denn hier zeichnet sich der Duktus der kommenden China-Strategie ab.
Das Parlament: Viele Länder, die man früher als Blockfreie bezeichnet hätte, zeigen jetzt wenig Neigung, sich der Position des Westens speziell zu Russland anzuschließen. Es zeichnet sich also ab, dass der Westen möglicherweise einsamer ist, als man gedacht hätte. Gibt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie Ansätze, die dem Rechnung tragen?
Lambsdorff: Die gibt es und die waren uns auch besonders wichtig. Denn die Beschreibung, wie Sie sie in Ihrer Frage formulieren, ist ja zutreffend. Gerade Staaten in Afrika, aber auch die sogenannten BRICS-Staaten tun sich schwer damit, sich einfach dem Westen anzuschließen. In der Nationalen Sicherheitsstrategie ist der sehr klare Appell enthalten, auf diese Länder zuzugehen, die Zusammenarbeit und das gegenseitige Verständnis für die jeweiligen Positionen zu vertiefen. Mit anderen Worten: Das Problem ist erkannt, es ist damit zwar noch nicht gebannt, aber es kann jetzt bearbeitet werden. Wir sollten die Strategie nicht als Abschluss, sondern der Anfang eines oder mehrerer Prozesse ansehen. Insofern ist Vieles, das in der Strategie enthalten ist, ein Arbeitsauftrag für die Zukunft.
Das Parlament: Es gab unmittelbar nach der Vorstellung der Nationalen Sicherheitsstrategie von verschiedenen Seiten die Kritik, da wären viele schöne Sätze drin, aber das alles sei nicht im Haushalt mit Prioritäten unterlegt.
Lambsdorff: Ich kann verstehen, dass man fragt, wie das alles bezahlt werden soll, auch da wir in einer wirtschaftlichen Rezession stecken und die Haushaltsmittel knapp sind. Auf der anderen Seite enthält die Strategie ein bemerkenswert deutliches Bekenntnis zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato für die Bundeswehr, das auch Bundesfinanzminister Lindner im Zuge der Vorstellung der Strategie noch einmal betont hat. Das ist natürlich eine ausgabenwirksame Aussage. Ich glaube, wir werden in den Haushaltsverhandlungen der nächsten Wochen und Monaten sehen, dass die bessere Ausstattung der Bundeswehr und die Schließung von Fähigkeitslücken unserer Streitkräfte als klare Priorität erkannt worden sind.
Das Parlament: Sie sind gelernter Diplomat und sollen bald neuer deutscher Botschafter in Moskau werden. Die Benennung eines außenpolitischen Schwergewichts, wie Sie es sind, auf diesen Posten ist zweifellos ein politisches Signal. Mit welchen Gedanken und welchen Gefühlen gehen Sie diese Aufgabe an?
Lambsdorff: Mit Dankbarkeit, dass die Bundesregierung mir diese Aufgabe zutraut, aber auch in dem Bewusstsein, dass die politischen Beziehungen zu Russland zurzeit in einer ganz schwierigen Phase stecken. Die Hoffnung muss sein, dass sich das eines Tages verbessert, nur leider gibt es derzeit kaum Anzeichen, die darauf hindeuten.
Das Parlament: Und wie groß ist die Wehmut des streitlustigen Politikers, der Sie bald nicht mehr sein dürfen?
Lambsdorff: Ich habe die Entscheidung ja bewusst getroffen, niemand hat mich dazu gezwungen. Insofern, ja, es wird den einen oder anderen Moment geben, wo es mich in den Fingern juckt und ich gerne einen Tweet absetzten möchte. Ich bin allerdings, wie Sie selber gesagt haben, gelernter Diplomat, werde mich entsprechend zurückhalten und hoffe dann, dass mich das nicht allzu sehr belastet. Aber ich bin da ganz zuversichtlich.
(c) Deutscher Bundestag, 16.06.23