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Gregor Gysi wird als dienstältester Abgeordneter die konstituierende Sitzung des Bundestags eröffnen. Seine Partei Die Linke ist überraschend mit 8,8 Prozent in den Bundestag eingezogen. Er fordert intensivere inhaltliche Debatten und eine stärkere europäische Zusammenarbeit. An den Grundfesten von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit dürfe nicht gerüttelt werden.
Das Interview im Wortlaut:
Das Parlament: Herr Gysi, vor ein paar Monaten glaubte kaum jemand daran, dass die Linke den Einzug in den Bundestag schafft. Nun hat sie mit 8,8 Prozent ein starkes Ergebnis erzielt Sie selbst haben Ihren Wahlkreis in Berlin-Treptow-Köpenick mit großem Abstand direkt gewonnen. Hat Sie das überrascht?
Gregor Gysi: Von der Höhe her schon. Als wir mit unserer Mission „Silberlocke“ gestartet sind, standen wir gerade mal bei knapp drei Prozent. Ein echter Wendepunkt war dann die letzte Sitzungswoche, als Heidi Reichinnek ihre Rede hielt – in dem Moment drohte zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Gesetz mit Stimmen der AfD, also einer rechtsextremen Partei, verabschiedet wird. Das hat viele aufgerüttelt. Ich habe danach mit sechs oder sieben Prozent gerechnet. Dass es am Ende 8,8 Prozent geworden sind, hat mich dann doch überrascht.
Das Parlament: Die Linke hat in den vergangenen Jahren einige Krisen durchlebt. Ende des Jahres 2023 haben sich Mitglieder abgewandt und sind zum neu gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gewechselt. Wie hat sich Ihre Partei über die Jahre verändert?
Gregor Gysi: Ehemalige SED-Mitglieder sind in unserer Partei inzwischen eine Seltenheit. In der neuen Fraktion gibt es genau drei: Dietmar Bartsch, Christian Görke und mich. Gleichzeitig haben wir über 30.000 neue Mitglieder. Das verändert die Partei. Sie ist jünger, vielfältiger und in einer anderen Zeit angekommen. Bei der Bundestagswahl 2025 hat meine Partei die Zukunft geschenkt bekommen. Unsere Aufgabe in der Opposition ist es jetzt, den Zeitgeist zu beeinflussen – aber auf eine konstruktive Weise. Wir dürfen nicht destruktiv sein wie die AfD.
Das Parlament: Die AfD erreichte bei der Bundestagswahl 20,8 Prozent. Ist es noch vertretbar, dass sie keine Ausschussvorsitzenden oder Vizepräsidenten im Bundestag stellt?
Gregor Gysi: Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Die einen sagen, wenn sie mal in der Regierung wären, würde die AfD entzaubert werden. Die anderen meinen, dass sie, wenn sie erst einmal Macht hat, diese Positionen niemals wieder hergeben würde. Die AfD behauptet, sie werde ausgegrenzt – dabei sind sie in allen Ausschüssen vertreten und haben fantastische Redezeiten. Nur bei der Wahl eines Mitglieds im Geheimdienstausschuss oder eines Vizepräsidenten haben sie bisher keinen Erfolg, weil dafür eine absolute Mehrheit im Plenum nötig ist. Ob sich daran etwas ändern wird, weiß ich nicht. Aber ich kann und werde keinen AfD-Abgeordneten wählen.
Das Parlament: Seit dem Einzug der AfD in den Bundestag hat sich das Klima im Parlament nachhaltig verändert. Wie erleben Sie das?
Gregor Gysi: Der Ton ist rauer und die Angriffe im Plenum sind persönlicher geworden. Früher hatte ich eine kleine Kulturgeste: Die Männer tragen ja Anzüge mit Klappentaschen, und meistens steckt nur die halbe Klappe drin, der Rest schaut raus. Wenn wir im Fahrstuhl waren, habe ich mich dann vorgebeugt, bin an die Tasche gegangen und habe sie ordentlich herausgezogen. Die Leute waren zunächst verwundert, aber dann mussten sie lachen. Heute würde ich das nicht mehr tun. Es könnte ja ein AfD-Abgeordneter sein, und das wäre völlig unpassend.
Das Parlament: Glauben Sie, dass dieser raue Ton das Vertrauen in die Politik gefährdet?
Gregor Gysi: Nicht allein der Ton. Es ist problematisch, dass es längst nicht mehr um Wahrheiten, sondern nur noch um Mehrheiten geht. Das führt dazu, dass sich immer mehr Menschen – von der CSU bis zur Linken – von der etablierten Politik abwenden. Aber die Lösung kann nicht sein, der AfD hinterherzulaufen. Wir müssen uns fragen, was wir selbst falsch gemacht haben.
Das Parlament: Was wäre das?
Gregor Gysi: Zum Beispiel haben wir den Osten viel zu lange vernachlässigt – und genau dort ist die AfD eingesprungen. Das versuchen wir als Linke zu korrigieren, während sich andere Parteien darüber kaum Gedanken machen. Auch brauchen wir dringend Steuergerechtigkeit – davon sind wir leider noch weit entfernt. Gleichzeitig muss sich Deutschland als Wirtschaftsstandort behaupten. Beim Internetausbau haben wir den Anschluss verpasst, das darf uns bei der künstlichen Intelligenz nicht wieder passieren.
Das Parlament: Sie blicken auf eine lange politische Karriere zurück – von der Volkskammer bis in den Bundestag. Was hat sich im parlamentarischen Geschehen verändert?
Gregor Gysi: Als ich 1990 in den Bundestag kam, wurde ich nicht respektiert, teilweise gehasst. Es gab zwar einige, die mir sachlich begegneten, aber Respekt habe ich mir erarbeitet – über Jahrzehnte hinweg. Heute ist das anders. Ich glaube, eine Mehrheit im Bundestag erkennt zumindest meine politische Arbeit an.
Das Parlament: Nach fast 31 Jahren als Abgeordneter übernehmen Sie nun das Amt des Alterspräsidenten. Was bedeutet das für Sie?
Gregor Gysi: Es ist eine Ehre und eine Verantwortung. Ich werde die erste und letzte Rede meines Lebens als Alterspräsident ohne Zeitbegrenzung halten – das ist schon etwas Besonderes. Es ist wirklich angenehm, nicht ständig auf die Uhr schauen und nach zwei Minuten abbrechen zu müssen. Aber keine Sorge, ich werde das nicht missbrauchen.
Das Parlament: Wissen Sie schon, was Sie sagen wollen?
Gregor Gysi: Ich bin abergläubisch. Ich habe immer gesagt: Wenn man sich vor der Wahl auf das Amt des Alterspräsidenten vorbereitet, wird man es nicht bekommen. Daher habe ich erst mal die Finger davon gelassen. Erst jetzt fange ich an, mir, wie der Berliner sagt, „eine Birne zu machen“, was ich da so sagen könnte. Aber sicherlich werde ich etwas zur Außenpolitik sagen und auch zur Situation unserer Gesellschaft. Vielleicht werde ich auch einige Vorschläge unterbreiten, was man überparteilich mal miteinander besprechen müsste. Denn was wir wirklich brauchen, ist mehr echter Diskurs und weniger Schaukämpfe.
Das Parlament: Sie haben die Außenpolitik angesprochen. Wo sehen Sie da aktuell die größten Herausforderungen?
Gregor Gysi: Die Herausforderung liegt darin, dass wir im Kalten Krieg zumindest eine gewisse Stabilität hatten – durch das Jalta-Abkommen waren die Einflusssphären klar aufgeteilt, auch wenn das nicht schön war. Heute sieht die Welt ganz anders aus: Das Sowjetsystem gehört der Vergangenheit an, und nun hat Trump das westliche System praktisch aufgekündigt. Die USA fürchten, dass China zur Weltmacht Nummer eins aufsteigt, weshalb sie glauben, autoritärer werden zu müssen, um effizienter zu agieren. Das zwingt uns dazu, ernsthaft für unsere Freiheit, unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu kämpfen – sowohl gegen innere als auch äußere Bedrohungen.
Das Parlament: Wie sollten Deutschland und Europa darauf reagieren?
Gregor Gysi: Zunächst einmal müssen wir uns – von der CSU bis zur Linken, aber auch mit Gewerkschaften, Kirchen, Unternehmerverbänden, Künstlern und Wissenschaftlern – darauf verständigen, dass wir unsere Grundfesten von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gemeinsam verteidigen. Bei Steuern und vielen anderen Themen können wir streiten, aber an diesen drei Fundamenten darf nicht gerüttelt werden. Und wir müssen endlich begreifen, dass Europa als Ganzes handlungsfähig sein muss. Die Nationalstaaten allein haben gegen die Weltmächte keine Chance.
Das Parlament: Mit Blick auf all diese Herausforderungen. Was wünschen Sie sich von der nächsten Regierung?
Gregor Gysi: Ich wünsche mir eine Regierung, die sich darüber im Klaren ist, dass sie einen freien, unabhängigen, souveränen und demokratischen Staat vertritt – einen Staat, der durchaus das Recht hat, eigene Ziele zu formulieren und auch im Ausland dafür einzutreten. Natürlich muss man kompromissbereit sein, aber man muss auch den Mut haben, die eigenen Ziele klar zu benennen. Das gab es in der DDR nicht, weil die Sowjetunion einen großen Einfluss hatte. Auch in der BRD war das nie der Fall, weil man immer Rücksicht auf die drei Siegermächte nehmen musste – insbesondere auf die USA. Aber ich finde, das sollte nun endlich vorbei sein. Wir müssen unsere eigenen Ziele formulieren, sie artikulieren und dafür auch streiten.
Das Gespräch führte Carolin Hasse.
Gregor Gysi (77) zog 1990 erstmals in den Deutschen Bundestag ein. Nach einer kurzen Zeit als Berliner Senator sitzt er seit 2005 für Die Linke im Parlament, davon zehn Jahre als Fraktionschef. Gysi ist Abgeordneter für den Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick.
Deutscher Bundestag, 28.02.2025