Die Modernisierung der Justiz war Thema einer öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages am Mittwoch, 15. Mai 2024. Dazu lag ein Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur weiteren Digitalisierung der Justiz“ (20/10943) vor. Durch Rechtsanpassungen im Bereich des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Aktenführung soll die bereits fortgeschrittene Digitalisierung in der Justiz in allen Verfahrensordnungen weiter gefördert werden, wie es in dem Entwurf heißt.
Die zehn Sachverständigen würdigten die Bemühungen der Bundesregierung, den Justizbereich weiter zu modernisieren, vertraten jedoch zu einzelnen Aspekten unterschiedliche Meinungen. Unter anderem sollen im Strafverfahrensrecht Erleichterungen bei der Strafantragsstellung und weiteren derzeit bestehenden Schriftformerfordernissen geschaffen werden, und es soll den Verfahrensbeteiligten die Teilnahme an der Revisionshauptverhandlung im Wege der Videokonferenz ermöglicht werden. Vor allem darauf bezogen sich auch viele Fragen der Abgeordneten.
Wie Angelika Allgayer, Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe, in ihrer schriftlichen Stellungnahme erläuterte, sind der Umstieg auf die elektronische Akte und die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Praxis bereits eingeleitet. Soweit der Gesetzentwurf darauf ziele, drohende Medienbrüche zu vermeiden und den elektronischen Schriftverkehr weiter auszubauen, seien die vorgeschlagenen Änderungen zu begrüßen. Dies gelte auch für die vorgesehene Erleichterung der Aufnahme von Strafanträgen. Erhebliche Bedenken bestünden indes gegen die geplante Änderung der Strafprozessordnung, soweit regelhaft eine digitale Teilnahme an der Revisionshauptverhandlung ermöglicht werden soll. Als „Herzstück“ des Strafverfahrens sollte sie weiterhin regelhaft in Präsenz und nur ausnahmsweise digital stattfinden, so Allgayer.
Wilfried Bernhardt vom Deutschen EDV-Gerichtstag betonte, dass durch einzelne Änderungen der Prozessrechtsvorschriften allein es nicht gelingen werde, den Reformstau bei der Justizdigitalisierung aufzulösen. Es sei deshalb langfristig unumgänglich, die Prozessordnungen zu modernisieren, um eine bürgernahe, niedrigschwellig zugängliche und moderne Justiz zu fördern und für die Bewältigung umfangreicher und komplexer Verfahren sowie von Massenverfahren nutzbar zu machen. Zur Zulassung der Hybridaktenführung in bestimmten Fällen meinte Bernhardt, da es hier nur um eine Übergangsphase von der Papieraktenführung zur elektronischen Aktenführung gehe, sei die vorgesehene Öffnung für eine begrenzte Hybridaktenführung akzeptabel.
Tim Hühnert, Referatsleiter Recht beim Deutschen Gewerkschaftsbund, lehnte in seiner Stellungnahme die geplanten Änderungen zum Zugang von empfangsbedürftigen Willenserklärungen im Hinblick auf Kündigungen im Arbeitsrecht ausdrücklich ab. Für Kündigungen von Arbeitsverhältnissen sei die Schriftform vorgeschrieben, die elektronische Form sei ausdrücklich ausgeschlossen. Mit dem Gesetzesentwurf solle diese strikte Form nun – zumindest im elektronischen Rechtsverkehr – aufgeweicht werden. Die Aufweichung der Formvorschriften für Kündigungen sei in jeglicher Form abzulehnen. Jeder Schritt in diese Richtung sei unsozial und falsch.
Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins, meinte, bei dem Gesetzentwurf gehe es nur darum, einzelne Punkte anzusprechen, aber nicht den großen Wurf zu machen. In der Justiz gebe es eine sehr heterogene Landschaft, und es müssten Zweifel angemeldet werden, ob es in den Ländern eine flächendeckende Umsetzung der E-Akte in dem geplanten Zeitrahmen geben kann. Sie glaube jedoch, dass man mit der Möglichkeit einer vorübergehend hybriden Aktenführung die Menschen in den Gerichten mehr mitnehmen könne. Allerdings bleibe man da auch nur bei der E-Akte stehen. Sie glaube, die Schaffung eines gemeinsamen virtuellen Arbeitsraums zwischen Gerichten, Anwälten und vielleicht auch Beteiligten müsse die große Zielsetzung sein.
Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht, Vorsitzender des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen, schloss sich seinen Vorrednern an und sagte, die meisten der vom Entwurf aufgegriffenen Punkte seien gut und richtig. Es seien kleine Schritte auf dem Weg zu einer besseren elektronischen Kommunikation. Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit falle auf, dass die Aktenführungsflexibilisierung die Möglichkeit schaffe, in der Pilotierungsphase Papierakten fortzuführen. Das sei aus Sicht der Verwaltungsgerichtsbarkeit sinnvoll, denn sie sei in der Tat mit vielen Akten belastet, die sukzessive digitalisiert werden müssten, was viele Gerichte vor erhebliche Umsetzungsprobleme stelle. Dies sei im Sinne des großen Ganzen eine gute flexible Regelung.
Jacqueline Sittig vom Deutschen Juristinnenbund begrüßte die im Entwurf enthaltenen gleichstellungsorientierten und strafprozessualen Aspekte, die für eine zeitgemäße Justiz nicht nur notwendig, sondern für einen niedrigschwelligen und gleichberechtigten Zugang zur Strafverfolgung, gerade in Fällen digitaler Gewalt, unabdingbar seien. Allerdings seien weitere Maßnahmen in Bezug auf eine elektronische Anzeigeerstattung erforderlich. Der Juristinnenbund schließe sich den Forderungen nach einer bundeseinheitlichen Möglichkeit der elektronischen Anzeigeerstattung an. In einzelnen Bundesländern gebe es bereits Meldeportale für strafrechtlich relevante Äußerungsdelikte im Internet.
Der Rechtswissenschaftler Gregor Thüsing von der Universität Bonn verwies darauf, dass der Entwurf Änderungen enthalte, die von der Möglichkeit der Stellung eines Strafantrags per E-Mail über die Ausweitung von Videoverhandlungen bis hin zu Hybridakten sowie der verpflichtenden elektronischen Aktenführung reichten. Thüsing zufolge stellt sich bei der Digitalisierung zurecht immer wieder die Frage nach dem Datenschutz. Dabei werde er oftmals als Hemmnis statt als Treiber empfunden. Dies sei aber nicht zwingend, denn Datenschutzrecht sei in seiner Grundidee ein Ermöglichungsrecht und kein Verhinderungsrecht. Datenschutz stehe der Digitalisierung nicht entgegen.
Jana Zapf, Richterin am Oberlandesgericht Celle, die den Deutschen Richterbund vertrat, merkte an, dass der Erfolg der Digitalisierung der Justiz vor allem von einer angemessenen Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften abhängen werde. Gegen die Regelungsvorhaben des Entwurfs bestünden keine durchgreifenden Bedenken. Hinsichtlich der vorgesehenen Änderung der Strafprozessordnung wies Zapf jedoch darauf hin, dass diese für die Angeklagten keinen wirklichen Mehrwert erwarten lasse. Zugleich drohe die Revisionshauptverhandlung geschwächt zu werden. Bedenken habe der Richterbund auch bezüglich der Regelung, dass ein Strafantrag künftig auch elektronisch gestellt werden können soll.
Dagegen befürwortete Franziska Benning von HateAid die Abschaffung des Schriftformerfordernisses vollumfänglich. Die gemeinnützige Organisation HateAid setzt sich für Menschenrechte im digitalen Raum ein. Nach Ansicht von HateAid sollte es unbedingt möglich sein, Strafanträge digital, zum Beispiel per E-Mail oder über Onlineformulare zur Anzeige von Hasskommentaren und Verletzungen des Rechts am eigenen Bild zu stellen. Die Abschaffung des Schriftformerfordernisses sei ein wichtiger Schritt, um Hürden für Betroffene digitaler Gewalt bei der Rechtsdurchsetzung abzubauen. Sie sei geeignet die Anzeigebereitschaft zu erhöhen und insgesamt zu mehr Strafverfolgung bei digitaler Gewalt zu führen.
Für Volker Römermann, Beirat des Legal Tech Verbands Deutschland, stimmt die Richtung des Entwurfs grundsätzlich, allerdings greife er zu kurz und bringe nicht die gebotene umfassende Digitalisierung. Die konsequente Verwirklichung des Rechtsstaats erfordere einen konsequenteren und mutigeren Schritt, als es im Entwurf noch zum Ausdruck komme. Der Entwurf sei bereits vom Ansatz her inkonsequent, soweit er teilweise vom Misstrauen in die Digitalisierung geprägt sei. Unter anderem seien die vorgeschlagenen Umsetzungsfristen für vertrauliche Aktenbestandteile deutlich zu lang.
An der Anhörung nahmen auf Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Römermann und Sittig teil, Allgayer, Stegmüller und Thüsing auf Vorschlag der CDU/CSU, Benning, Hühnert und Zapf auf Vorschlag der SPD und Kindermann und Bernhard auf Vorschlag der FDP.
(c) HiB Nr. 329, 15.05.024