Zu den Forderungen der Bundesinnenministerin und hessischen SPD-Vorsitzenden Nancy Faeser nach Einrichtung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Verfolgung von häuslicher Gewalt zum Nachteil von Frauen und zu den neuen Fallzahlen von häuslicher Gewalt führte der hessische Justizminister Roman Poseck heute in Wiesbaden aus:
„Die Einrichtung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft wäre der völlig falsche Weg. In Hessen haben wir bereits Sonderdezernate zur Verfolgung von häuslicher Gewalt flächendeckend bei den hessischen Staatsanwaltschaften und bei der Amtsanwaltschaft Frankfurt eingerichtet. Ich kann nur deutlich davor warnen, die bewährten Strukturen durch die Einrichtung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft zu zerstören. In Fällen von häuslicher Gewalt kommt es auf ein schnelles Eingreifen vor Ort an. Dies wiederum setzt eine vernetzte Zusammenarbeit vor Ort und Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten voraus. Die Erfahrung der Sonderdezernate sind hilfreich für einen professionellen Umgang mit den Betroffenen, eine effektive Strafverfolgung, aber auch für eine gezielte Weitervermittlung an eine kompetente Hilfeeinrichtung. Neben den Sonderdezernaten hat Hessen mit dem Marburger Modell eine weitere Maßnahme zur effektiven Strafverfolgung und gleichzeitiger Prävention mittlerweile landesweit ausgerollt. Wir sind in Hessen bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt bereits sehr gut aufgestellt und können auf bewährte Strukturen zurückgreifen. Der Vorschlag der Bundesinnenministerin zeugt von erheblicher Praxisferne.“
Marburger Modell
Der Minister führte dazu aus: „Der Fokus bei dieser Intervention in Fällen häuslicher Gewalt, die auf einem ursprünglich in Marburg entwickeltem Programm basiert, liegt auf einer schnellen und intensiven Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht unter der Mitwirkung von Täterberatungsstellen und Beratungsstellen für Opfer und Zeugen von Straftaten im partnerschaftlichen Kontext. Durch eine schnelle Einbindung der Gerichtshilfe als Sozialer Dienst der Justiz nach einem Vorfall häuslicher Gewalt mit Polizeieinsatz kann einerseits der Opferschutz deutlich gestärkt und andererseits die Möglichkeit zur Einwirkung auf die Beschuldigten verbessertwerden. Außerhalb des Marburger Modells machen Polizei und Staatsanwaltschaft in Verfahren wegen häuslicher Gewalt oftmals die Erfahrung, dass das Opfer die unmittelbar nach der Tat noch erstattete Strafanzeige später zurücknimmt. Da es ohne Strafanzeige oftmals keine anderen Eingriffsmöglichkeiten gibt und die Beschuldigten keine zeitnahen Konsequenzen erfahren, zeigt die Erfahrung, dass es danach zu weiteren Fällen häuslicher Gewalt kommen kann. Dem begegnet das Marburger Modell.
Der Erfolg des Marburger Modells liegt in dem frühzeitigen Eingreifen der Gerichtshilfe. Diese soll in der Regel innerhalb von fünf Tagen nach dem Vorfall tätig werden. Erfahrungsgemäß sind sowohl die Geschädigten als auch die Beschuldigten kurze Zeit nach der Tat noch empfänglich für Beratungsangebote. Das Opfer ist bereit auszusagen oder Hilfsangebote anzunehmen, ebenso sind die Beschuldigten eher motiviert, sich einem Trainingsprogramm zu unterziehen. Dieses Zeitfenster schließt sich in der Regel sehr rasch. Das schnelle Aufsuchen der Geschädigten und der Beschuldigten durch die Gerichtshilfe signalisiert den Opfern gleichzeitig, dass der Staat etwas zu ihrem Schutz unternimmt. Den Beschuldigten wird vermittelt, dass ihr Handeln nicht toleriert wird und dass häusliche Gewalt keine Privatsache ist. Zudem sind auch positive Effekte hinsichtlich etwaiger Kinder der Familie zu erwarten, die durch das frühzeitige Auftreten der Gerichtshilfe erfahren, dass das Verhalten der gewaltausübenden Personen Konsequenzen hat und die Opfer Hilfe erfahren.“
Vorschlag zur Änderung des Gewaltschutzgesetzes, um Frauen besser vor häuslicher Gewalt zu schützen
„Anstatt praxisferne Vorschläge zu unterbreiten, sollte sich die Bundesinnenministerin für eine Schärfung der rechtlichen Instrumente auf Bundesebene einsetzen. Damit könnte den von Gewalt betroffenen Frauen wirklich geholfen werden. Hessen setzt sich dafür ein, die elektronische Fußfessel auch in Fällen des Gewaltschutzgesetzes zur Anwendung zu bringen. Ziel ist es, Kontakt- und Annäherungsverbote in Eskalationsfällen effektiver zu überwachen. Hessen hat eine solche Initiative im Mai in die Justizministerkonferenz eingebracht. Die Initiative hat große Unterstützung erfahren. Der Bundesjustizminister ist um weitere Prüfung einer entsprechenden Änderung des Gewaltschutzgesetzes gebeten worden. Der Ball liegt also in Berlin und könnte durch die Bundesinnenministerin jederzeit aufgegriffen werden,“ führte Roman Poseck aus.
„Die der Öffentlichkeit neu vorgestellten Zahlen zur Entwicklung der häuslichen Gewalt in Deutschland sind erschreckend. Im vergangenen Jahr gab es fast 180.000 Opfer, was ein Anstieg von 9,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Es handelt sich um eine deutschlandweit zu beobachtende Entwicklung. Laut polizeilicher Kriminalstatistik gab es im vergangen Jahr in Hessen über 11.400 Opfer von häuslicher Gewalt. Das ist ein Alarmzeichen und unterstreicht die Bedeutung des gesellschaftlichen und politischen Handelns. Wir haben in Hessen bereits viele Maßnahmen auf den Weg gebracht und wollen mit neuen Vorschlägen, wie der Änderung des Gewaltschutzgesetzesnoch weitere Schritte gehen“, so der Minister weiter.
Die Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt, die bereits 2006 im Hessischen Ministerium der Justiz eingerichtet wurde, organisiert einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch der Sonderdezernentinnen und Sonderdezernenten. Neben dem fachlichen Austausch bietet das Treffen Gelegenheit zur fachspezifischen Fortbildung.
Die Arbeitsgemeinschaft „Gewalt im häuslichen Bereich“ des Landespräventionsrates Hessen hat seit Anfang 2020 in einer eigens hierfür eingerichteten Unterarbeitsgruppe die bisherige Fassung des Landesaktionsplans im Hinblick auf seine Umsetzung und insbesondere auch hinsichtlich der Vorgaben der Istanbul-Konvention evaluiert. Dabei wurden diejenigen Artikel der Konvention, die primär auf die Bekämpfung von Partnerschaftsgewalt abzielen und die zudem durch Maßnahmen der Landesregierung konkret beeinflusst werden können, auf den Stand ihrer Umsetzung in Hessen überprüft und entsprechende Handlungsempfehlungen erarbeitet. Diese wurden von der hessischen Landesregierung mit dem 3. Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt im häuslichen Bereich aufgegriffen. Der Plan betont die wichtigen Strukturen zum Schutz der Opfer, zu denen weit überwiegend Frauen und Mädchen sowie die immer auch mit betroffenen Kinder zählen, zur ebenso wichtigen Arbeit mit den Tätern und zum vernetzten Vorgehen aller Beteiligten. Der dritte Aktionsplan sieht danach einen bedarfsgerechten Ausbau der Täterarbeit und die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit in Kinderschutzverfahren auf struktureller Ebene vor. Ferner wird die Bedeutung standardisierter Fallkonferenzen, die in Fällen häuslicher Gewalt das Ziel einer interdisziplinären Risikoeinschätzung verfolgen, hervorgehoben. Weiterhin betont der dritte Aktionsplan noch deutlicher, dass die Bekämpfung häuslicher Gewalt gesamtgesellschaftliche Maßnahmen erfordert. So adressiert der Plan ausdrücklich auch den Bildungssektor und die Medien und hebt die Bedeutung der Sensibilisierung sowie der Aus- und Fortbildung aller beteiligten Professionen inklusive des Gesundheitssystems vor.
(c) HMdJ, 19.06.23