Die Niedersächsische Ministerin für Inneres und Sport, Daniela Behrens, und der Präsident des Niedersächsischen Verfassungsschutzes, Dirk Pejril, haben heute (01.06.2023) den Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022 vorgestellt.
Verdachtsobjekt „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“
Wie bereits im vergangenen Jahr prognostiziert, haben sich die Personen, die zu dem Verdachtsobjekt „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ zählen, neuen Themen zugewandt. Das während der Corona-Pandemie geprägte Protestgeschehen nutzt inzwischen den Ukraine-Krieg, die hohe Inflation und die gestiegenen Energiepreise als Vehikel, um ihre fundamentale Ablehnung des demokratischen Systems der Bundesrepublik Deutschland zu verbreiten.
Diese Personen sind vermehrt Teil einer Mischszene aus unterschiedlichen extremistischen Strömungen: von traditionellen Rechtsextremisten über Vertretende der Neuen Rechten und Anhängende der Reichsbürgerszene bis hin zu Personen aus dem genannten Spektrum der sogenannten Corona-Leugner, Querdenker und Verschwörungstheoretiker. Diese Vermischung ist ganz deutlich auch im virtuellen Raum zu beobachten. Vor allem in den sozialen Medien verbreiten diese Gruppen ihre Narrative und erlangen dadurch zusehends an Reichweite.
Ministerin Behrens: „Wir sehen hier eine Entwicklung bei der sich die unterschiedlichen Szenen vermischen und sich zunehmend gegenseitig bestärken. Verschwörungstheorien werden übernommen und das demokratische System in Deutschland fundamental abgelehnt. Ihre zentralen Feindbilder sind insbesondere haupt- wie ehrenamtliche Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten, aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – oder Menschen, die sich öffentlich engagieren und für das Gemeinwohl eintreten. Diese Prozesse der Entgrenzung und Delegitimierung gehen Hand in Hand und haben ein sehr ähnliches Ziel: Unsere demokratische Ordnung soll unter Druck gesetzt werden. Herausgebildet hat sich eine ‚hochbrisante Melange‘.“
Verfassungsschutzpräsident Pejril: „Potenzielle Gewalttäter radikalisieren sich zunehmend unter dem Einfluss des Internets, ohne Anbindung an eine der traditionellen rechtsextremistischen Organisationen. Rechtsextremisten, Corona-Leugner-Verschwörungstheoretiker und Reichsbürger: Sie alle versuchen die Legitimität des Staates systematisch zu untergraben, indem sie gegen Repräsentanten und Institutionen des Staates aggressiv agitieren und damit eine verfassungsfeindliche Agenda verfolgen: Sie verkaufen sich als ‚Widerstandsbewegung‘ oder gerieren sich verharmlosend als ‚Friedensbewegung‘ ganz im Sinne Russlands.“
Zu den weiteren Phänomenbereichen im Einzelnen:
Rechtsextremismus
Nach wie vor ist die Gefahr, die vom Rechtsextremismus und seinen Akteurinnen und Akteuren ausgeht, hoch. Auch wenn das rechtsextremistische Personenpotenzial in Niedersachsen leicht rückläufig (von 1.730 auf 1.610) ist.
Die NPD mit nur noch 200 oder „Die Rechte“ mit 30 Angehörigen haben, resultierend aus dem Mitgliederverlust der vergangenen Jahre, organisatorische und strukturelle Probleme.
Die NPD ist in den meisten Landesteilen faktisch nicht mehr wahrnehmbar.
Die Anzahl der Neonazis und subkulturell geprägten Rechtsextremisten stagniert bei 220 bzw. 590 Personen. Zwar war der Aktivitätsradius des neonazistischen und subkulturellen Rechtsextremismus durch die Corona-Pandemie eingeschränkt, jedoch bildet die Szene wegen ihrer Gewaltbereitschaft weiterhin einen Schwerpunkt der Verfassungsschutzarbeit.
Die Anzahl niedersächsischer „Reichsbürger und Selbstverwalter“ ist mit rund 900 Personen, darunter 50 gleichzeitig dem organisierten Rechtsextremismus angehörend, in etwa gleichgeblieben. Diese Klientel stellt aufgrund ihrer rigorosen Ablehnung staatlicher Autorität und ihrer Affinität zu Waffen eine große Gefahr dar. Das Ergebnis der bundesweiten Razzien vom 07.12.2022 und 22.03.2023 sowie 22.05.2023 gegen mehr als 50 Mitglieder einer mutmaßlich terroristischen Vereinigung aus dem Reichsbürgermilieu machen dies deutlich. Unter den 26 Verhafteten sind vier Personen aus Niedersachsen. Von den inzwischen 63 Beschuldigten kommen insgesamt sechs aus Niedersachsen.
Auch die immer wieder feststellbaren Übergriffe von Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern sowie Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter auf Polizeibeamtinnen und -beamte, Mandatsträgerinnen und -träger sowie Journalistinnen und Journalisten dokumentieren die Gewaltbereitschaft dieser Szene.
Behrens: „Der Rechtsextremismus stellt weiter die größte Bedrohung für unsere Demokratie dar. Rechtsextremistische Personengruppen müssen weiterhin unbeirrt strafrechtlich verfolgt werden. Auch von sogenannten Reichsbürgern und Selbstverwaltern geht eine große Gefahr aus. Die bundesweiten Razzien aus diesem und dem vergangenen Jahr haben gezeigt: Dieses Milieu muss konsequent entwaffnet werden. In Niedersachsen sind wir schon ein gutes Stück vorangekommen, das Waffenrecht setzt hier aber immer noch zu hohe Hürden. Aus diesem Grund haben wir dafür gesorgt, dass die Zuständigkeit für das Waffenrecht ab dem kommenden Jahr bei den Landkreisen, kreisfreien Städten und der Region Hannover gebündelt wird. Insbesondere die Entwaffnung von extremistischen Personen stellt die Waffenbehörden vor eine schwierige Aufgabe, die in den größeren Organisationseinheiten der Landkreise und kreisfreien Städte sowie der Region Hannover noch effektiver bewältigt werden kann.“
Linksextremismus
Die Zahl der Linksextremisten bleibt konstant mit etwas mehr als 1.200 Personen, davon entfallen 810 auf die Autonomen und sonstigen gewaltbereiten Linksextremisten sowie Anarchisten. Themenschwerpunkte sind aktuell der Klimaschutz, die Wohnraumumgestaltung und der Antimilitarismus.
Linksextremisten versuchen die Klimaschutzbewegung für ihre extremistischen Interessen zu instrumentalisieren, indem sie versuchen, Einfluss auf einzelne Gruppierungen dieser Initiative zu nehmen und sie zu radikalisieren.
Pejril: „Im Gegensatz zum demokratischen Klimaprotest machen Linksextremisten mit ihren Aktionen deutlich, dass für sie konsequenter Klimaschutz nur möglich ist, wenn der Kapitalismus und der ihn – aus ihrer Sicht – schützende demokratische Rechtsstaat abgeschafft sind. Deswegen unternehmen sie den Versuch, die Initiativen für ihre extremistischen Interessen zu instrumentalisieren und langfristig zu radikalisieren.“
Die Innenministerin meint: „Die Regeln unseres Rechtstaates gelten auch für diejenigen, die für so wichtige Anliegen wie den Natur- und Klimaschutz eintreten. Es ist daher wichtig, dass Klimaaktivistinnen und -aktivisten Distanz einnehmen zu extremistischen und kriminellen Kräften.“
Auch den angespannten Wohnungsmarkt und die steigenden Mieten werden Linksextremisten unter dem Stichwort „Antigentrifizierung“ weiterhin als Thema nutzen, um sowohl mit Hausbesetzungen als auch mit Übergriffen auf Immobilienunternehmen und ihre Mitarbeitenden für ihre demokratiefeindlichen Interessen zu kämpfen. Unter dem Stichwort „Antimilitarismus“ ist künftig weiter mit linksextremistischen Übergriffen u. a. auf Rüstungsunternehmen und deren Zulieferbetriebe zu rechnen.
Islamismus
Im Bereich Islamismus ist die jihadistische Propaganda weiterhin virulent. Sie sorgt für eine latente Anschlagsgefahr durch islamistische Extremisten und Terroristen.
Indoktrinierte und radikalisierte Einzelpersonen, insbesondere auch in Verbindung mit psychischen Auffälligkeiten, oder Kleingruppen stellen hier neben den Terrororganisationen ein erhebliches Gefahrenpotenzial dar.
Das Personenpotenzial des größten Teils der niedersächsischen Islamisten, den Salafisten, war im Jahr 2022 erstmals rückläufig. Jedoch war das Aktionsniveau in diesem Phänomenbereich 2022 deutlich höher als in vorangegangenen Jahren. Zum Teil mag die Aufhebung der coronabedingten Einschränkungen ursächlich sein. Den Ausschlag dürften jedoch populäre deutschsprachige Prediger gegeben haben, die sich neu etabliert haben und die salafistische Ideologie verständlich und jugendgerecht verbreiten. Ebenfalls haben Missionierungskampagnen wieder zugenommen, so z. B. Literaturverteilaktionen oder Vortragsreihen salafistischer Prediger.
Es ist weiterhin mit einer intensiven und professionellen Nutzung von Social-Media-Plattformen zu rechnen. Diese salafistischen Onlineangebote erlangen eine sehr hohe Reichweite. Dadurch kommen vor allem auch Menschen in sehr jungem Alter in Kontakt mit salafistischen Inhalten, was eine Radikalisierung fördern kann.
Die Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) in Braunschweig hat sich als bundesweiter Anlaufpunkt salafistischer Prediger etabliert. Wöchentlich werden die Auftritte dieser bundesweit bekannten salafistischen Prediger zudem über die vielfältigen Online-Kanäle der DMG Braunschweig einer großen Zahl an Zuschauenden zugänglich gemacht. Ihre Bekanntheit hat die DMG Braunschweig zuletzt signifikant gesteigert, indem sie ihre Internetpräsenzen massiv ausgebaut und diversifiziert hat. Das ausgedehnte Angebot reicht mittlerweile von YouTube über TikTok bis zu Spotify und Telegram. Allein der YouTube-Kanal der DMG Braunschweig hat derzeit etwa 70.000 Abonnenten (Stand: 05/2023).
Die Gefahr der Selbstradikalisierung insbesondere vor dem Hintergrund der digitalen Möglichkeiten zur Information und Kommunikation ist und bleibt hoch. Das zeigen die immer wieder bekanntwerdenden Gefahrensachverhalte.
Ministerin Behrens: „Das salafistische Personenpotenzial in Niedersachsen ist im Jahr 2022 erstmals leicht zurückgegangen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die salafistische Szene nach Jahren mit geringer Außenwirkung zuletzt wieder deutlich aktiver und wahrnehmbarer geworden ist. Über Plattformen wie YouTube und TikTok erreichen salafistische Prediger tausende von Zuschauenden. Neben der terroristischen Anschlagsgefahr ist insbesondere in der Entstehung eines Nährbodens für eine weitere Radikalisierung eine Bedrohung für unsere Gesellschaft zu sehen. Auch negative Einflüsse auf unsere Integrationsbemühungen, der Verlust der gesellschaftlichen Akzeptanz für die islamische Religion und die Bildung von Parallelgesellschaften können durch islamistische Tendenzen gefördert werden. Wir werden diese Entwicklung weiterhin intensiv beobachten, um Gefahren für unsere Demokratie frühzeitig aufzuspüren.“
Extremismus mit Auslandsbezug
Der nicht islamistische Extremismus mit Auslandsbezug zeigt sich in Deutschland als starke ideologische Kontroverse. In Niedersachsen werden vor allem türkische und kurdische Organisationen beobachtet.
In Deutschland ist die PKK derzeit die mit Abstand mitgliederstärkste nicht-islamistische extremistische Ausländerorganisation. Seit 2011 liegt die Anhängerzahl in Niedersachsen konstant bei etwa 1.600 Personen. Die versammlungsrechtlichen Aktionen zeigen, dass das mobilisierungsfähige Protestpotenzial, vor allem aufgrund der dahinterliegenden Familienstrukturen, viel größer ist. Emotionale Protestaktionen hierzulande zeigen, wie unmittelbar der Konflikt in der Türkei und den kurdisch besiedelten Grenzregionen in Syrien und im Irak (verschiedene militärische Offensiven gegen Stellungen der PKK, mutmaßlicher Chemiewaffeneinsatz der türkischen Armee) von den Kurden auch in Deutschland wahrgenommen und bewertet wird.
Die türkische „Ülkücü-Bewegung“, auch als Graue Wölfe bekannt, ist mit rund 700 Anhängern in Niedersachsen die derzeit größte rechtsextremistische Bewegung mit Auslandsbezug. Die politischen Entwicklungen in der Türkei sind auch für die „Ülkücü-Bewegung“ sowohl Impulsgeber als auch richtungsweisende Grundlage. Eine ausgeprägte Pro-Erdoğan-Stimmung in Deutschland verstärkt die nationalistische Ausrichtung der Vereine und ihre Abkehr von Integrationsbemühungen.
Spionageabwehr
Im Rahmen einer hybriden Kriegsführung versuchen russische Akteure mit Desinformationskampagnen, Energieboykott, Cyberangriffen und dem Eindringen in Macht- und Intellektuellenkreise Einfluss auf die Menschen und Regierungen in Europa zu nehmen.
Insgesamt hat die Cyberabwehr in 13 Fällen konkrete Anhaltspunkte auf staatlich gesteuerte Aktivitäten gegen niedersächsische informationstechnische Systeme festgestellt. Adressaten waren z. B. Wirtschaftsunternehmen, Behörden, Universitäten oder auch Privatpersonen. Im Einzelfall wurden Betroffene sensibilisiert, Systeme forensisch analysiert oder an das Bundesamt für Verfassungsschutz übergeben. Ein bekannter Fall war z. B. der Ausfall des Satellitennetzwerks KA-SAT, das die Betreiber zur Kommunikation mit ihren Windkraftanlagen nutzen.
Daneben gibt es Cyberaktivitäten mit Bezug zu Desinformationskampagnen. Die vermutlich von russischen Geheimdiensten gesteuerte Hackergruppe „Ghostwriter“ hat beispielsweise mit sogenannten Hack- und Leak-Operationen im politischen Bereich versucht, das öffentliche Meinungsbild zu beeinflussen. Auch elf niedersächsische Landtagsabgeordnete wurden Opfer von Phishing-Angriffen. Das Ziel war die Übernahme von Social Media-Accounts, um sie für Desinformationsinhalte zu nutzen.
Innenministerin Behrens: „Diese Entwicklungen nehmen wir nicht hin! Den russischen Fake News und Lügenerzählungen müssen wir noch aktiver entgegentreten und Falschinformationen nicht unwidersprochen im digitalen Raum stehen lassen. Ich werde mich daher im Rahmen der anstehenden Innenministerkonferenz in rund zwei Wochen mit Nachdruck dafür einsetzen, dass wir den im vergangenen Jahr beschlossenen ‘Gemeinsamen Aktionsplan von Bund und Ländern gegen Desinformation und für eine wehrhafte Demokratie‘ umsetzen.“
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind einerseits Rüstungsunternehmen sowie deren Zulieferer, andererseits aber auch Unternehmen, die wegen ihrer Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen als Kritische Infrastruktur (KRITIS) gelten, in den Fokus von Geheimdiensten gerückt. Entsprechend hat es bei Unternehmen der KRITIS gesteigerten Beratungsbedarf gegeben.
Diese Unternehmen, zu denen z. B. auch Energieversorger zählen, sind bei Cyberattacken in besonderem Maße gefährdet, da erfolgreiche Angriffe erhebliche Auswirkungen auf die Gesamtbevölkerung haben können.
Verfassungsschutzpräsident Pejril: „Wir sind als Verfassungsschutz im engen Austausch mit vielen Unternehmen in Niedersachsen und stehen mit Blick auf die aktuelle Lage jederzeit beratend zur Seite.“