In der Frage der Ausgestaltung des künftigen Wahlrechts mit dem Ziel, den Bundestag zu verkleinern, herrscht unter Sachverständigen kein Einvernehmen. Das wurde am Montag in einer öffentlichen Anhörung des Innenausschusses deutlich. Gegenstand der Anhörung waren neben dem Gesetzentwurf von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des 25. Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (20/5370) auch ein Gesetzentwurf der AfD-Fraktion (20/5360) sowie Anträge der CDU/CSU-Fraktion (20/5353) und der Fraktion Die Linke (20/5356, 20/5357, 20/5358).
Im Mittelpunkt stand der Entwurf der Ampelfraktionen, der darauf abzielt, die Zahl der Bundestagsmandate auf die Regelgröße von 598 zu begrenzen. Überhangmandate, die dadurch entstehen, dass eine Partei in einem Land mehr Direktmandate gewinnt als ihrem Zweitstimmenanteil entspricht, und die daraus resultierenden Ausgleichsmandate mit dem Ziel, den Zweitstimmenproporz wieder herzustellen, soll es künftig nicht mehr geben. Dies hatte in der Vergangenheit zur Vergrößerung des Bundestages mit derzeit 736 Abgeordneten geführt. Die geplante „Hauptstimmendeckung“ im Ampelvorschlag besagt, dass Wahlkreissiegern nur dann ein Mandat zugeteilt wird, wenn die von ihrer Partei im jeweiligen Land errungenen Zweitstimmen, die künftig Hauptstimmen heißen sollen, dies zulassen. Werden mehr Direktmandate gewonnen, als das Hauptstimmenergebnis ermöglicht, gehen die Wahlkreissieger mit dem schlechtesten Erstimmenergebnis leer aus. Dies könnte dazu führen, dass einzelne Wahlkreise nicht mehr durch einen direkt gewählten Kandidaten im Bundestag vertreten wären.
Professorin Jelena von Achenbach von der Justus-Liebig-Universität Gießen lobte am Ampelentwurf, dieser sei konservativ, weil er die bestehende Struktur des Wahlrechts fortsetze, verfassungskonform, weil die Verbindung von Verhältniswahl und Wahl nach lokalen Wahlvorschlägen im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers liege, und fair, weil er keine Partei strukturell benachteilige. Der Gesetzgeber ändere die Bedingungen des Mandatsgewinns. Einen „vorrechtlichen Anspruch“ auf den Gewinn eines Wahlkreismandats gebe es nicht, so von Achenbach. „Verwaiste“ Wahlkreise ohne gewählten Direktkandidaten könnten durch erfolgreiche Listenbewerber repräsentiert werden.
Professor Christoph Möllers von der Humboldt-Universität zu Berlin sprach von einem einfachen Konzept, mit dem die Verkleinerung des Bundestages erreicht werde, das eine föderale Repräsentation schaffe. Auch könnten die bisherigen Wahlkreise beibehalten werden.
Professor Florian Meinel von der Georg-August-Universität Göttingen betonte, parlamentarische Repräsentation müsse einheitlich sein und für alle Gewählten dasselbe bedeuten. Vorstellbar wäre aus seiner Sicht, in den Entwurf aufzunehmen, dass das Erfordernis der Hauptstimmendeckung dann aufgehoben würde, wenn ein Bewerber seinen Wahlkreis mit mehr als 50 Prozent der Wahlkreisstimmen gewinnt, was im jetzigen Bundestag nur einem Abgeordneten gelungen sei. Verfassungsrechtliche Auswirkungen hätte dies nicht.
Professor Friedrich Pukelsheim von der Universität Augsburg hob hervor, dass der Ampelvorschlag die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen sichere. Im Übrigen hielt er eine Reform des Wahlrechts für Auslandsdeutsche für dringend geboten.
Nach Ansicht von Professorin Sophie Schönberger von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf schafft der Ampelvorschlag, was das geltende Wahlrecht über Jahrzehnte nicht geleistet habe: die Zahl der Abgeordneten auf 598 zu begrenzen und ein proportionales Abbild des Wählerwillens zu erzeugen. Sie empfahl, noch klarer zu formulieren, dass die Wahlkreisstimme, die bisherige Erststimme, ihre Bedeutung verändert habe.
Von einer „großen politischen Leistung“ sprach Professor Uwe Volkmann von der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Der Unionsvorschlag, die Zahl der Abgeordneten auf 590 und die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu begrenzen sowie 15 Überhangmandate nicht auszugleichen, würde nach seiner Einschätzung das Ziel verfehlen, die Regelgröße einzuhalten. Dass ein kleiner Teil der Wahlkreise nicht mit Direktkandidaten besetzt wäre, sei der Preis, den man zahlen müsse. Eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise wäre zudem nicht einfach, so Volkmann.
Deutliche Kritik am Ampelentwurf kam von Professor Philipp Austermann von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, der nur den Unionsantrag für verfassungskonform und alle übrigen Vorlagen als verfassungswidrig einstufte. Er diagnostizierte eine Ungleichbehandlung von Wählerstimmen und prognostizierte, dass eine zweistellige Zahl von Wahlkreisen künftig ohne direkt gewählten Kandidaten auskommen müsste. Auch hielt er den Ampelvorschlag für bürgerfern und empfahl, davon Abstand zu nehmen und einen tragfähigen Kompromiss zu suchen.
Professorin Stefanie Schmahl von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg sagte, das Grundgesetz kenne eine „proporzkonditionierte Mehrheitsregel“ nicht. Problematisch sei, dass die Hauptstimme im Ampelentwurf zur entscheidenden Determinante und die Wahlkreisstimme zum Beiwerk degradiert werde. Zur Frage der möglichen Einführung einer offenen Listenwahl sagte Schmahl, damit könnten beispielsweise Frauen auf hinteren Listenplätzen vom Wähler weiter nach oben gebracht werden.
Professor Bernd Grzeszick von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hielt offene Listen für verfassungsgemäß. Professor Tarik Tabbara von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin bezeichnete die Einführung eines Ausländerwahlrechts ab einem fünfjährigen legalen Aufenthalt in der Bundesrepublik als „wichtigen Schritt für die Demokratie in Deutschland“ und unterstützte damit einen Antrag der Linken (20/5356).
Die Anhörung im Video, die Liste der Sachverständigen sowie deren Stellungnahmen auf bundestag.de: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw06-pa-inneres-wahlrechtsreform-931376
Quelle: Deutscher Bundestag, HiB Nr. 85 vom 6. Februar 2023