Anlässlich der heutigen State-of-the-Union-Rede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklären Chantal Kopf, Europapolitische Sprecherin, und Anton Hofreiter, Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union:

Kommissionspräsidentin von der Leyen hat den Schwerpunkt ihrer State of the Union zurecht auf die grüne Transformation gelegt. Dass der Green Deal das Kernstück der europäischen Wirtschaft ist, wird sich in den kommenden Monaten in den konkreten Ergebnissen der Fit-For-55-Pakete zeigen müssen. Wir begrüßen daher Frau von der Leyens Ankündigung, ein großes europäisches Windkraftpaket auf den Weg zu bringen. Was uns jedoch zu denken gibt: Wenn Frau von der Leyen von einer klimaneutralen europäischen Wirtschaft spricht, scheint es, als müsse sie vor allem die eigenen Reihen noch überzeugen.

Die große Solidarität mit der Ukraine in ihrer Verteidigung gegen Putins schrecklichen Angriffskrieg muss uneingeschränkt fortbestehen. Das zeigt sich bei der Stabilisierung des ukrainischen Staatshaushalts, in der Aufbauhilfe und in den Waffenlieferungen aus den europäischen Mitgliedsstaaten. Es ist wichtig, wie von der Leyen betont, dass die Zukunft der Westbalkan-Staaten, der Ukraine, Moldaus und perspektivisch auch Georgiens in der EU liegen. Eine solche Erweiterung stellt die EU vor große neue Herausforderungen. Es wird strukturelle Reformen und nicht zuletzt auch Vertragsänderungen brauchen, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhalten. Hier bleibt die Kommissionspräsidentin konkrete Ideen schuldig. Die vorgeschlagenen Pre-Enlargement Policy Reviews und die Öffnung des Rechtsstaatsberichts für Beitrittskandidaten können konstruktive Initiativen dafür sein.

Eine wesentliche europäische Herausforderung hat von der Leyen jedoch nicht angesprochen: Der Abbau der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten ist die größte Bedrohung der europäischen Demokratie von innen. Rechtsstaatlichkeit ist die Grundlage für ein freies und demokratisches Europa. Die Entwicklungen in Ungarn und Polen geben seit Jahren Anlass zu großer Sorge. Es bleibt zu hoffen, dass das Aussparen der Rechtsstaatlichkeit in ihrer Rede nicht in Zusammenhang mit dem anstehenden Europawahlkampf steht. Das Ausgreifen der europäischen Konservativen in Richtung der Rechtspopulisten und Rechtsextremen ist eine ernsthafte Gefahr.

Das Sterben im Mittelmeer führt uns auf schreckliche Art und Weise vor Augen, dass die EU derzeit im Umgang mit Menschen auf der Flucht versagt. Frau von der Leyen benennt zurecht die völlig veralteten Strukturen im Umgang mit Migration. Dass Menschenrechte und der Schutz des Einzelnen in ihrer Rede jedoch keine Erwähnung finden, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Wir brauchen legale Fluchtrouten und eine funktionierende Seenotrettung, um das Sterben auf der Flucht und die unmenschlichen Bedingungen in den Flüchtlingslagern zu beenden.

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