Die fraktionsübergreifend vorgelegten Pläne zur Stärkung der Resilienz und Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts sind bei Sachverständigen bei einer Anhörung im Rechtsausschuss auf ein sehr positives Echo gestoßen. Unterschiedliche Ansichten vertraten die geladenen Juristinnen und Juristen am Mittwoch indes etwa bei den Fragen, ob auch das Richterwahlquorum in die Verfassung aufgenommen werden sollte und ob bei Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes der Bundesrat zustimmen sollte.
Mehrere der geladenen Expertinnen und Experten warben eindringlich dafür, die Reform trotz des Scheiterns der Ampel-Koalition noch in dieser Wahlperiode zu verabschieden. Auch die juristischen Berufsverbände hatten vergangene Woche einen entsprechenden Appell an den Bundestag gerichtet. In der Anhörung drückten mehrere Abgeordnete ebenfalls den Wunsch aus, das Vorhaben zeitnah umzusetzen.
Zu dem Thema liegen zwei Gesetzentwürfe vor. Die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie der SSW-Abgeordnete Stefan Seidler schlagen mit dem ersten Entwurf vor, wesentliche, bisher einfachgesetzlich geregelte Strukturmerkmale des Gerichts im Grundgesetz zu verankern. Das gilt etwa für die Organisation des Gerichts (zwei Senate mit jeweils acht Richterinnen und Richtern), die Altersgrenze für Richterinnen und Richter sowie das Wiederwahlverbot. Ferner soll der Status des Gerichts als Verfassungsorgan, die Bindungswirkung seiner Entscheidungen sowie die Geschäftsordnungsautonomie festgeschrieben werden. Neu ist zudem ein Ersatzwahlmechanismus für den Fall von Blockaden der Richterwahl in Bundestag beziehungsweise Bundesrat. Die genaue Ausgestaltung dieses Ersatzwahlmechanismus ist Ziel des zweiten Gesetzentwurfs der Initianten, der Änderungen im Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorsieht.
Die Sachverständigen lobten, dass mit dem Gesetz grundsätzlich die Ziele, die Resilienz des Gerichts zu stärken und seine Unabhängigkeit zu wahren, erreicht würden. Der Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Karpenstein, führte aus, dass alle Vorschläge richtig und wichtig seien. Sie schlössen Lücken, „die schon vor Jahrzehnten erkannt worden sind“. Mit ihnen werde „angemessene Vorsorge“ gegen Court Packing, die vorzeitige Absetzung von Richtern oder „obstruktive Sperrminoritäten“ geschaffen, sagte der von der SPD-Fraktion benannte Sachverständige.
Karpenstein verwies aber, wie auch andere Sachverständige, auf die vom ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Professor Ferdinand Kirchhof diagnostizierte „offene Flanke“ der Reform, nämlich das einfachgesetzlich geregelte Prozessrecht im Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kirchhof, der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als Sachverständiger benannt worden war, führte aus, dass das Gericht durch Änderungen im Prozessrecht schnell lahmgelegt werden könne. Wenn man nur die Organisation und das Wahlverfahren des Gerichts regele und das Prozessrecht weglasse, schaffe man ein Stückwerk. Kirchhof schlug deshalb, wie auch andere Sachverständige und der Bundesrat selbst, vor, Änderungen am Bundesverfassungsgerichtsgesetz künftig nur noch mit Zustimmung der Länderkammer zu ermöglichen.
Skeptischer gegenüber einer solchen Lösung äußerte sich hingegen Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht. Er rate davon ab, da dies die Tätigkeit des einfachen Gesetzgebers erschweren würde und nicht zur Sicherung des Bundesverfassungsgerichts beitrage. Der Entwurf sei in vorliegender Form geeignet, die Unabhängigkeit des Gerichts zu sichern, sagte der von der CDU/CSU-Fraktion benannte Sachverständige. An einigen Punkten, etwa bei der Regelung zur Amtszeit, zur Höchstaltersgrenze und zum Wiederwahlverbot, gehe er sogar über das Erforderliche hinaus. Seegmüller riet zudem davon ab, das Erfordernis einer Zweidrittel-Mehrheit für die Wahl von Richterinnen und Richtern in der Verfassung festzuschreiben.
Mehrere Sachverständige sprachen sich hingegen genau dafür aus. Professorin Sophie Schöneberger (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) argumentierte, dass sich dies gerade mit Blick auf den neuen Ersatzwahlmechanismus empfehle. Man könne sich etwa ein „dystopisches Szenario“ vorstellen, in dem eine „destruktive Mehrheit“ das Quorum im Bundestag auf eine einfache Mehrheit herabsetze, im Bundesrat aber die Einstimmigkeit vorschreibe. Das sei zwar ein sehr unwahrscheinliches Szenario, sollte aber mitgedacht werden, sagte die von der SPD-Fraktion als Sachverständige benannte Rechtswissenschaftlerin. Hinsichtlich des Ersatzwahlmechanismus gab Schöneberger zudem zu bedenken, ob nicht auch der Ersatzwahlmechanismus selbst in der Verfassung verankert werden sollte, da es das Risiko gebe, dass dieser mit einfacher Mehrheit gestrichen werden könnte.
Die Sachverständigen diskutierten im Zusammenhang mit dem Ersatzwahlmechanismus zudem unter anderem die Frage, ob die für den Fall der Fälle vorgesehene Parallelzuständigkeit beider Wahlorgane sinnvoll ist oder nicht. Kritische Anmerkungen gab es auch an Details zum vorgesehenen Verfahren beim Ersatzwahlmechanismus.
Deutliche und grundsätzliche Kritik am Ersatzwahlmechanismus, der im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt werden soll, übte Professor Hansjörg Huber (Hochschule Zittau/Görlitz). Der von der AfD-Fraktion benannte Sachverständige sagte, der zugrunde liegende Gesetzentwurf sei ein „Oppositionsschwächungsgesetz“. Huber kritisierte, dass schon im gegenwärtigen Verfahren der Richterwahl kein „echter Konsens“ mehr vorliege, da nicht alle von den Parteien vorgeschlagenen Kandidaten berücksichtigt würden. Die „gegenseitige Anerkennung“ sei durch „Mauschelei und Ausgrenzung“ ersetzt worden, sagte Huber und verwies auf seine Erfahrung als Richterkandidat der AfD im Bundestag und in Sachsen. Da Oppositionsparteien von diesem „undemokratischen Verdikt“ betroffen seien, brauche es dringend die Sperrminorität bei der Richterwahl. „Wenn es sie nicht gäbe, müsste man die wirklich erfinden“, meinte Huber.
Professor Karsten Schneider (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) betonte, dass es gerade die Öffnungsklausel für den Ersatzwahlmechanismus sei, die das Erfordernis einer Zweidrittel-Mehrheit stabilisieren werde. Sie erhöhe die „politischen Kosten“ einer einfachgesetzlichen Absenkung des Quorums im Bundesverfassungsgerichtsgesetz im Fall von Blockaden, da es einen alternativen Weg gebe, mit den widerstreitenden Interessen umzugehen. Zudem habe der Mechanismus eine „abschreckende Wirkung“ auf potentielle Blockaden, sagte der von der CDU/CSU-Fraktion als Sachverständiger benannte Rechtswissenschaftler.
Professorin Paulina Starski (Universität Freiburg) hob am Beispiel der Entwicklung in Polen hervor, dass der „Zerfall des Verfassungsstaates“ regelmäßig mit einer Entmachtung der Verfassungsgerichte beginne. Durch eine „kluge verfassungsrechtliche Absicherung“ könnten solche Prozesse verlangsamt werden und die Möglichkeit gegeben werden, eine Revision einzuleiten. Die vorgeschlagenen Änderungen „werden einen resilienzsteigernden Effekt haben“, sagte die von der FDP-Fraktion als Sachverständige benannte Rechtswissenschaftlerin. Für die Resilienz bedürfe es aber eines ganzheitlichen Ansatzes, betonte Starski: „Demokratien bleiben stets ein Stück weit fragil, können aber durch Pflege der Verfassungskultur sowie gesellschaftlichen Rückhalt stabilisiert werden.“
Insgesamt äußerten sich elf Sachverständige in der Anhörung. Neben den genannten waren das auf Vorschlag der FDP-Fraktion der ehemalige Bundesverfassungsrichter und Rechtswissenschaftler Professor Andreas Paulus (Universität Göttingen), auf Vorschlag der SPD-Fraktion Professor Heiko Sauer (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn), auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion der ehemalige Bundesverfassungsrichter Wilhelm Schluckebier sowie auf Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Jurist Maximilian Steinbeis (Geschäftsführer Verfassungsblog).
(c) HiB Nr. 785, 13.11.2024