Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat mit Beschluss vom 20. Januar 2022 § 2 Abs. 5 der Corona-Verordnung Studienbetrieb des Wissenschaftsministeriums mit Ablauf des 23. Januar 2022 außer Vollzug gesetzt. Denn das „Einfrieren der Alarmstufe II“ durch die Corona-Verordnung der Landesregierung, das für nicht-immunisierte Studierende zum weitgehenden Ausschluss von Präsenzveranstaltungen führe, sei voraussichtlich rechtswidrig.
Sachverhalt
Der Antragsteller, der bereits gegen eine frühere 2G-Regelung für Hochschulen geklagt hatte (vgl. Pressemitteilung vom 17. Dezember 2021), wendet sich mit seinem Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO gegen § 2 Abs. 5 CoronaVO Studienbe-trieb des Wissenschaftsministeriums vom 11. Januar 2022. Nach dieser Vorschrift sind nicht-immunisierte Studierende in der Alarmstufe II – mit der Ausnahme von Praxisveranstaltungen, Prüfungen und dem musikalischen und künstlerischen Lehrbetrieb – von Präsenzveranstaltungen ausgeschlossen. Die Hochschulen müssen für sie die Studierbarkeit der Studiengänge sicherstellen. In der Vorschrift ist ausdrücklich vorgesehen, dass das sog. „Einfrieren der Alarmstufe II“ durch § 1 Abs. 2 Satz 2 der CoronaVO der Landesregierung auch für den Studienbetrieb gilt.
Der Antragsteller, der nicht gegen COVID-19 geimpft ist und Pharmazie an einer Hochschule im Baden-Württemberg studiert, sieht sich durch § 2 Abs. 5 CoronaVO Studienbetrieb in seinem Recht auf Ausbildungsfreiheit verletzt und wendet sich auch gegen das „Einfrieren der Alarmstufe II“. Die Landesregierung (Antragsgegner) stütze sich für das „Einfrieren der Alarmstufe II“ zu Unrecht auf
die Ausbreitung der Omikron-Variante.
Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten. § 2 Abs. 5 CoronaVO Studienbetrieb sei rechtmäßig. Durch die Ausbreitung der hochansteckenden Omikron-Variante stiegen derzeit die Infektionszahlen mit dem SARS-CoV-2-Virus trotz der bestehenden Schutzmaßnahmen sehr stark an. Durch den Anstieg der Anzahl an Neuinfektionen, aber auch durch den Anstieg an COVID-19-Erkrankungen beim medizinischen Personal komme es zunehmend zu einer Gefährdung der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Daher sei das „Einfrieren der Alarmstufe II“ rechtmäßig.
Beschluss des VGH
Der 1. Senat des VGH hat § 2 Abs. 5 CoronaVO Studienbetrieb (in der Fassung vom 11. Januar 2022) mit Ablauf des 23. Januar 2022 außer Vollzug gesetzt. Zur Begründung führt er aus: Soweit § 2 Abs. 5 CoronaVO Studienbetrieb für die inzidenzunabhängige Alarmstufe II im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaVO („eingefrorene Alarmstufe II“) Geltung beanspruche, sei die Vorschrift voraussichtlich rechtswidrig. Eine Vorschrift, die ausdrücklich „unabhängig“ von der 7-Tage-Hospitalisierungs- Inzidenz weitreichende Zugangsbeschränkungen für nicht-immunisierte Personen normiere, stehe mit den gesetzlichen Vorgaben aus § 28a Abs. 3 Satz 3 IfSG nicht in Einklang. Erhebliche Grundrechtsbeschränkungen könnten nicht abgekoppelt von der 7-Tage-Hospitalisierungs-Inzidenz angeordnet werden. Die Beschränkung des Zugangs zu Präsenzveranstaltungen für Studierende sei keine Maßnahme des präventiven Infektionsschutzes nach § 28a Abs. 3 Satz 2 IfSG. Der Gesetzgeber sei ausdrücklich davon ausgegangen, dass zu den Maßnahmen des präventiven Infektionsschutzes nach § 28a Abs. 3 Satz 2 IfSG nur „niederschwellige“ Maßnahmen gehörten. Eine Vorschrift, die nicht-immunisierte Studierende durch eine 2G-Regelung vom Zutritt zu universitären Veranstaltungen in weitem Umfang ausschließe, begründe hingegen einen gravierenden Eingriff in das Grundrecht der Betroffenen auf Berufsausbildungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.
Der Einordnung als „weitergehende Schutzmaßnahme“ im Sinne von § 28a Abs. 3 Satz 3 IfSG – und nicht lediglich als „Maßnahme zum präventiven Infektionsschutz“ im Sinne von § 28a Abs. 3 Satz 2 IfSG – stehe auch nicht entgegen, dass der Bundesgesetzgeber in § 28a Abs. 3 Satz 2 IfSG auf § 28a Abs. 1 Nr. 2a IfSG verweise, der die „Verpflichtung zur Vorlage eines Impf-, Genesenen- oder Testnachweises“ ermögliche. Denn dieser Verweis beziehe sich lediglich auf die Pflicht zur Nachweisvorlage, nicht aber zu der davon zu unterscheidenden, wesentlich eingriffsintensiveren Maßnahme „an die Vorlage solcher Nachweise anknüpfende Beschränkungen des Zugangs“, die auch der Bundesgesetzgeber in § 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 IfSG differenziert betrachte und der er offensichtlich ein schwerwiegenderes Gewicht beimesse.
Es handele sich daher um eine weitergehende Schutzmaßnahme nach § 28a Abs. 3 Satz 3 IfSG. Der Gesetzgeber gebe in § 28a Abs. 3 Satz 4 IfSG ausdrücklich vor, dass wesentlicher Maßstab für solche weitergehenden Schutzmaßnahmen insbesondere die 7-Tage-Hospitalisierungs-Inzidenz sei. Mit dieser Vorgabe sei § 2 Abs. 5 Satz 1 CoronaVO Studienbetrieb nicht vereinbar, soweit er auf § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaVO verweise. Denn eine Verordnungsregelung, die erklärtermaßen „unabhängig“ von der 7-Tage-Hospitalisierungs-Inzidenz Geltung beanspruche, sich also von der Entwicklung dieser Inzidenz abkoppele, sei mit der Vorgabe in § 28a Abs. 3 Satz 4 IfSG, dass die Inzidenz der wesentliche Maßstab „ist“, nicht in Einklang zu bringen.
Der Beschluss des VGH ist unanfechtbar (1 S 3846/21).
Hinweis
Die Außervollzugsetzung betrifft nur § 2 Abs. 5 CoronaVO Studienbetrieb. Dies hat verfahrensrechtliche Gründe. Der VGH kann nur Vorschriften außer Vollzug setzen, die von einem Antragsteller ausdrücklich angegriffen worden sind. Beim VGH sind noch Verfahren anhängig, die in der Sache ebenfalls das „Einfrieren der Alarmstufe II“ betreffen. Diese Verfahren sind noch nicht entscheidungsreif, da eine abschließende Stellungnahme aller Beteiligten noch nicht vorliegt.
Quelle: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 21. Januar 2022