Das Sozialgericht Braunschweig hat entschieden, dass die gesetzliche Krankenversicherung der Klägerin die Kosten für eine Vakzinationstherapie mit dendritischen Zellen aufgrund eines Aderhautmelanoms zu erstatten hat.
Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin erkrankte 2018 an ihrem linken Auge an der Tumorart Aderhautmelanom. Ungefähr die Hälfte aller Betroffenen entwickeln Metastasen, die innerhalb weniger Monate zum Tode führen. Die Entwicklung von Metastasen hängt eng mit einem genetischen Marker – Monosomie 3 – zusammen. Die meisten Betroffenen mit Monosomie 3 im Primärtumor entwickeln Metastasen. Nach Entfernung des linken Auges der Klägerin ergab die Untersuchung des Tumors, dass bei der Klägerin ein Aderhautmelanom mit Monosomie 3 besteht.
In Folge nahm die Klägerin an einer von der Deutschen Krebsstiftung finanzierten Studie vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und dem Universitätsklinikum Erlangen teil. Dabei wurden körpereigene dendritische Immunzellen, die sich aus weißen Blutkörperchen (Monozyten) entwickeln, zur Herstellung eines Impfstoffes gegen Metastasenbildung verwendet. Die Klägerin erhielt im Rahmen der Studie die ersten drei von insgesamt acht geplanten Impfungen (Vakzinationen). Weil aber zwischenzeitlich von ihr nicht mehr genug Monozyten zur Impfstoffherstellung gewonnen werden konnten, endete nach den wissenschaftlichen Regeln der Krebsstiftung die Teilnahme der Klägerin an der Studie automatisch.
Daraufhin beantragte die Klägerin bei ihrer Krankenkasse die Übernahme der Kosten für die von ihr weitergeführte Vakzinationstherapie (und Nebenkosten) für mindestens vier medizinisch erforderlich gehaltene Impfungen zu zumindest Kosten je Impfung von über 5.000 Euro. Dies lehnte die Krankenkasse ab. Eine sozialmedizinische Indikation für die beantragte Versorgung bestehe nicht. Zwar stehe keine andere (vom Gemeinsamen Bundesausschuss) zugelassene Therapie zur Verfügung, aber weder liege eine lebensbedrohliche Krankheit vor noch sei die Datenlage geeignet, einen zu erwartenden Behandlungserfolg ausreichend zu begründen. Für die Vakzinationstherapie gebe es in der gesetzlichen Krankenversicherung keine positive Zulassungsentscheidung, sie sei daher keine Leistung der Krankenkasse im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB V.
Das Sozialgericht Braunschweig hat der Klage der Klägerin stattgegeben und die beklagte Krankenkasse zur Erstattung von insgesamt über 50.000 Euro verurteilt. Nach Einholung eines augenärztlichen Gutachtens sah das Gericht die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung § 2 Abs. 1a SGB V als erfüllt an. Das Aderhautmelanom mit Monosomie 3 der Klägerin ist eine lebensbedrohliche Erkrankung mit einem hohen Risiko für eine in kurzer Zeit auftretende Metastasierung und mit einer begrenzten Überlebenswahrscheinlichkeit von weniger als 50 % innerhalb von drei bis fünf Jahren. Allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende onkologische Leistungen zur Beeinflussung der Metastasenbildung stehen – anders als bei anderen Melanomen – gerade nicht zur Verfügung. Erste Ergebnisse aus der Studie in Erlangen begründen zudem die nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung. Insbesondere folgt aber die begründete Heilungsaussicht aus der von der Klägerin fortgeführten Vakzinationstherapie und den bei ihr in nunmehr vier Jahren ausgebliebenen Metastasierungen und Komplikationen außer denen, die unmittelbar aus dem Verlust des Auges resultierten.
Sozialgericht Braunschweig, Gerichtsbescheid vom 03.01.2024, Az. S 6 KR 109/20, nicht rechtskräftig
Zum Hintergrund:
Die Ausnahmeregelung § 2 Abs. 1a SGB V hatte der Gesetzgeber aufgrund der sog. „Nikolausentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98) im Jahre 2012 neu geschaffen. Grundsätzlich haben gemäß § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V die Qualität und Wirksamkeit der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat den Auftrag, dies näher und verbindlich auszugestalten (§ 92 SGB V); er lässt damit Leistungen und insbesondere neue Behandlungsmethoden zu. Nicht zugelassene Leistungen dürfen die Krankenkassen grundsätzlich nicht erbringen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2005 jedoch entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Art 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
(c) SG Braunschweig, 23.05.2024