Das Oberverwaltungsgericht wird für die Bearbeitung von Streitigkeiten um Wind-kraftanlagen personell verstärkt. Das erklärte Vizepräsident Sebastian Beimesche beim heutigen Jahrespressegespräch und berichtete, dass dafür in Kürze ein zusätzlicher Senat eingerichtet wird. Seit Ende 2020 ist das Gericht landesweit für alle neu-en Streitfälle um die Errichtung, den Betrieb und die Änderung von Windenergieanlagen mit einer Höhe von mehr als 50 Metern erstinstanzlich zuständig – und damit faktisch für alle neuen Anlagen. Rund 110 Klagen dieser Art sind inzwischen eingegangen. Die Neuregelung führt beim Oberverwaltungsgericht nicht nur zu mehr Verfahren, sondern auch zu einem höheren Bearbeitungsaufwand, weil nicht mehr auf Vor-arbeiten der Verwaltungsgerichte zu den vielfach schwierigen tatsächlichen und rechtlichen Fragen zurückgegriffen werden kann. Es klagen nicht nur Investoren auf eine Genehmigung, sondern auch Nachbarn, Gemeinden oder – in zahlenmäßig wenigen, dafür aber artenschutzrechtlich aufwändigen Verfahren – Naturschutzverbände gegen erteilte Genehmigungen für Windenergieanlagen. „Der angestrebte stärkere Ausbau der erneuerbaren Energien bringt Konflikte mit sich“, erklärte Vizepräsident Sebastian Beimesche. „Wir rechnen deshalb mit einem weiteren Anstieg der Verfahren.“
Auch viele andere Verfahren spiegeln gesellschaftlich relevante Auseinandersetzungen wider. Beimesche verwies auf weitere Streitigkeiten zu Klimathemen, mit denen das Oberverwaltungsgericht sich in diesem Jahr befassen wird. Umstritten sind etwa der Kohleabbau und die Kohleverstromung, die das Gericht in mehreren Verfahren beschäftigen. Ein Landwirt und zwei Mieter wenden sich in Eilverfahren gegen die vorzeitige Einweisung der RWE Power AG in den Besitz von Grundstücken am Rand der Abbruchkante des Braunkohletagebaus Garzweiler II in Lützerath. Das Oberverwaltungsgericht strebt an, bis Ende März 2022 über die Beschwerden zu entscheiden. Um Kohle geht es auch bei der Klage des BUND gegen die Genehmigungen für das Trianel-Steinkohlekraftwerk in Lünen, über die in diesem Jahr erneut entschieden werden soll. Ein anderes Umweltschutzthema betrifft das Streitverfahren, mit dem die Deutsche Umwelthilfe unter Berufung auf das Unionsrecht durchsetzen möchte, dass Deutschland das Aktionsprogramm zum Schutz von Gewässern vor Nitrat aus der Landwirtschaft fortschreibt.
Im Jahr 2021 fanden vor allem die vielen Corona-Entscheidungen, die die sieben nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichte und das Oberverwaltungsgericht getroffen haben, große Beachtung. Die Themen waren erneut vielfältig: Es ging etwa um schulische Fragen (Präsenzunterricht, Maskenpflicht, Tests), Impfungen, Betriebsuntersagungen oder -einschränkungen, z. B. im Einzelhandel, der Gastronomie oder dem Freizeit- und Sportbereich, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie zuletzt 3G- und 2G-Regelungen. Die Verfahrenszahl stieg im Jahr 2021 gegenüber dem Vorjahr erheblich an. Dies ist im Wesentlichen auf die mehr als 8.200 Klagen bei den Verwaltungsgerichten Minden und Münster zurückzuführen, mit denen Unternehmen aus der fleischverarbeitenden Industrie vom Land die Erstattung von Verdienstausfallentschädigungen verlangen, die sie während behördlich angeordneter Quarantäne an ihre Arbeitnehmer geleistet haben. Insgesamt sind im letzten Jahr rund 9.700 Corona-Hauptsacheverfahren und 700 Eilverfahren bei den Verwaltungsgerichten eingegangen (2020: 850 bzw. 630). Beim Oberverwaltungsgericht, das für Normenkontrollen gegen die verschiedenen Corona-Verordnungen erstinstanzlich zuständig ist, waren es rund 230 Hauptsache- und etwa 440 Eilverfahren (2020: 150 bzw. 340). Damit stieg der Anteil der Corona-Verfahren an allen neuen Streitfällen bei den Verwaltungsgerichten von etwa 3 % im Jahr 2020 auf 20 % im Jahr 2021 und beim Oberverwaltungsgericht von 6 % auf 9 %. Nachdem das Oberverwaltungsgericht in Normenkontrollsachen bislang ausschließlich in Eilverfahren entschieden hat, sollen spätestens in der zweiten Jahreshälfte 2022 erste Hauptsacheentscheidungen getroffen werden.
Wegen des massiven Anstiegs bei den Corona-Verfahren sind bei den Verwaltungsgerichten im vergangenen Jahr insgesamt 13 % mehr Verfahren eingegangen als im Vorjahr, obwohl es bei den Asylverfahren einen Rückgang von 15 % gab; diese machten nur noch einen Anteil von rund einem Viertel an allen Neueingängen aus. Die Verfahrensdauer blieb mit durchschnittlich 12 Monaten bei Hauptsachen und 2 Monaten bei Eilsachen (jeweils ohne Asylverfahren) stabil. Beim Oberverwaltungsgericht sind 2021 rund 12 % weniger Asylverfahren eingegangen als 2020, was zu einem Rückgang aller Eingänge um 5 % geführt hat. Die Rechtsmittelverfahren in Hauptsachen dauerten durchschnittlich 13 Monate (ohne Asylverfahren), bei Eilbeschwerdeverfahren verkürzte sich die Verfahrensdauer von 3,1 auf 2,7 Monate.
Quelle: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Pressemitteilung vom 4. März 2022