Der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart hat heute unter dem Vorsitz des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Stefan Vatter im Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Porsche Automobil Holding SE („PSE“) einen Musterentscheid verkündet.

Dem Verfahren liegt zugrunde, dass beim Landgericht Stuttgart eine Vielzahl von Klägern Schadensersatzklagen gegen die PSE erhoben haben. Sie sind der Ansicht, die PSE habe mehrfach ihre Verpflichtung zur Veröffentlichung von Ad-hoc-Mitteilungen über Insiderinformationen verletzt, die Vorgänge bei der Volkswagen AG im Zusammenhang mit dem sog. Diesel-Skandal, d.h. dem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Fahrzeuge des VW-Konzerns, und dessen Aufdeckung durch US-Institutionen und -Behörden in den Jahren 2014 und 2015 betreffen. Die Kläger sehen ihren Schaden u.a. darin, dass sie im fraglichen Zeitraum Aktien der PSE mangels einer früheren Ad-hoc-Mitteilung zu teuer erworben hätten, weil der Kurs anderenfalls nicht erst nach der am 22.09.2015 veröffentlichten Ad-hoc-Meldung der VW AG eingebrochen wäre.

Das Landgericht Stuttgart hatte dem Oberlandesgericht in seinem Vorlagebeschluss sogenannte Feststellungsziele zur Klärung zweier Fragenkomplexe zur Kapitalmarkthaftung der PSE vorgelegt, die in der rechtswissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert werden und in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt sind.

Im ersten Fragenkomplex ging es vor allem um die unter den Parteien umstrittene Frage, ob die PSE, die damals wie heute über 50 % der Stammaktien der Volkswagen AG hält, neben der VW AG überhaupt eine Verpflichtung zur Veröffentlichung von Ad-hoc-Mitteilungen über Vorgänge treffen konnte, die sich im Bereich der operativen Geschäftstätigkeit der VW AG abgespielt hatten und ggf. als Insiderinformationen gewertet werden müssen.

Im Wesentlichen hat der Senat diese Frage im Musterentscheid bejaht. Im Hinblick darauf, dass die hohe Beteiligung an der VW AG das wesentliche Investment der PSE darstellt und
deshalb Kurseinbrüche der VW-Aktie zu einem erheblichen Verlust des Unternehmenswerts der PSE führen können, nimmt der Senat an, dass eine reine Holdinggesellschaft wie die PSE auch dann zur Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung verpflichtet sein kann, wenn es um solche Ereignisse aus dem operativen Geschäftsbereich einer Gesellschaft wie der VW AG geht, an der sie sich lediglich beteiligt hat. Das gilt jedenfalls dann, wenn wie hier die VW AG selbst die Information nicht veröffentlicht hat.

Im zweiten vorgelegten Fragenkomplex ging es darum, ob es für die Veröffentlichungspflicht einer Aktiengesellschaft allgemein darauf ankommt, dass die Vorstandsmitglieder von den Insiderinformationen wissen oder ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Aktiengesellschaft das Wissen anderer Personen zugerechnet werden kann. Zu klären war konkret, ob etwaige Kenntnisse des Vorstands der VW AG oder auch anderer VW-Mitarbeiter über die Vorgänge um die Abschalteinrichtung der PSE zugerechnet werden können. Diese Frage stellte sich vor allem vor dem Hintergrund, dass einige Vorstandsmitglieder der VW AG seinerzeit zugleich Vorstandsmitglieder der PSE („Doppelvorstandsmitglieder“) waren.

Der Senat hat entschieden, dass ein kursrelevanter Umstand und die unmittelbare Betroffenheit eines Emittenten alleine noch keine Pflicht zur Veröffentlichung begründen. Vielmehr müssen die Mitglieder des dafür zuständigen Vorstands entweder diesen Umstand kennen oder ihr Unternehmen pflichtwidrig nicht so organisiert haben, dass sie über ihn informiert werden. Allerdings reicht es nach der Entscheidung des Senats für eine Veröffentlichungspflicht der PSE (ob und inwieweit die VW AG zur Veröffentlichung verpflichtet war, musste der Senat nicht entscheiden) nicht aus, wenn ihre Doppelvorstandsmitglieder von den Vorgängen um den Dieselskandal und seine Aufdeckung nur deshalb wussten, weil sie in ihrer Funktion als Vorstände der VW AG darüber informiert waren. Denn in diesem Fall waren sie jeweils gegenüber der VW AG unter Strafdrohung verpflichtet, über diese Umstände die Verschwiegenheit zu wahren, die das Aktiengesetz einem Vorstandsmitglied auferlegt. Die fraglichen Doppelvorstandsmitglieder hätten diese Informationen daher nur dann an die PSE weitergeben, d.h. dem dortigen Vorstand unterbreiten dürfen, wenn zuvor der gesamte Vorstand der VW AG beschlossen hätte, sie im Interesse der VW AG von ihrer Verschwiegenheitspflicht zu entbinden – dann hätte er zugleich aber darüber entscheiden müssen, ob die VW AG selbst eine Ad-hoc-Mitteilung veröffentlicht. Eine solche Beschlussfassung hat es bei der VW AG nicht gegeben. Da die Doppelvorstandsmitglieder ohne einen solchen Vorstandsbeschluss der VW AG etwaige Informationen über insiderrelevante Umstände nicht weitergeben durften, kann der PSE auch nicht vorgeworfen werden, einen Informationsfluss von der VW AG nicht durch geeignete Maßnahmen gesichert zu haben. Ob dies anders zu bewerten gewesen wäre, wenn die VW AG eine Konzerntochter der PSE gewesen wäre, konnte der Senat offen lassen, weil ein Konzernverhältnis zwischen beiden im maßgeblichen Zeitraum nicht bestand. Da die Zurechnung von Wissen aus dem Konzern der VW AG zulasten von PSE nicht möglich war, konnte auch offen bleiben, ob die Umstände um die Aufdeckung der illegalen Abschalteinrichtung durch die US-Behörden in den Jahren 2014 und 2015 überhaupt Insiderinformationen für die PSE darstellten.

Schließlich musste sich der Senat aufgrund von zugelassenen Erweiterungsanträgen mit der Frage befassen, ob die PSE bereits ab Juni 2008, als die ersten Fahrzeuge mit Dieselmotor EA 189 in den USA zugelassen wurden, eine Ad-hoc-Mitteilung pflichtwidrig unterlassen hat. Der Senat konnte hier bereits keine Veröffentlichungspflicht feststellen, weil die Vernehmung der bis Ende 2009 amtierenden Vorstandsmitglieder Dr. Wiedeking und Härter als Zeugen keine Anhaltspunkte dafür ergeben hat, dass diese die Abschalteinrichtungen kannten oder dass ihre Unkenntnis auf einer Pflichtwidrigkeit beruhte.

Der Musterentscheid, der nach seiner Rechtskraft die Landgerichte, die im Nachgang über die jeweiligen Einzelklagen zu entscheiden haben werden, bindet, ist nicht rechtskräftig. Gegen den Musterentscheid ist die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof zulässig.


Aktenzeichen:
LG Stuttgart: 22 AR 1/17

OLG Stuttgart: 20 Kap 2/17

Quelle: OLG Stuttgart, Pressemitteilung vom 29. März 2023

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