Der 1. Strafsenat – Staatsschutzsenat – des Oberlandesgerichts Koblenz hat heute den 58 Jahre alten syrischen Staatsangehörigen Anwar R. wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Form von Tötung, Folter, schwerwiegender Freiheitsberaubung, Vergewaltigung und sexueller Nötigung in Tateinheit mit Mord in 27 Fällen, gefährlicher Körperverletzung in 25 Fällen, besonders schwerer Vergewaltigung, sexueller Nötigung in zwei Fällen, über eine Woche dauernder Freiheitsberaubung in 14 Fällen, Geiselnahme in zwei Fällen und sexuellen Missbrauchs von Gefangenen in drei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Der Senat sieht es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter anderem als erwiesen an, dass der Angeklagte Anwar R. im Rahmen eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die syrische Zivilbevölkerung als Mittäter 27 Menschen ermordet hat sowie 4.000 Menschen in schwerwiegender Weise der körperlichen Freiheit beraubt und während der Ingewahrsamnahme gefoltert hat.
Ausgedehnter und systematischer Angriff gegen die syrische Zivilbevölkerung:
Nach den Feststellungen des Senats hat das syrische Regime jedenfalls seit Ende April 2011 einen ausgedehnten und systematischen Angriff gegen die eigene Zivilbevölkerung geführt.
Anfang 2011 sei der sogenannte „arabische Frühling“ auf Syrien übergesprungen. Als sich die Proteste ausweiteten, sei eine „Zentrale Stelle für Krisenmanagement“ gegründet worden. Das Gremium habe unmittelbar dem Staatspräsidenten Bashar al-Assad unterstanden und für sämtliche Sicherheitskräfte das Vorgehen gegen die Protestbewegung vorgegeben. Ziel der im April 2011 gefassten Beschlüsse der Zentralen Stelle für Krisenmanagement sei es gewesen, die Proteste zur Stabilisierung des Regimes unter Einsatz von Waffengewalt um jeden Preis niederzuschlagen. Die Teilnehmer an Demonstrationen oder Kundgebungen hätten von weiteren Aktivitäten abgehalten und die Gesamtbevölkerung von Protesten nachhaltig abgeschreckt werden sollen.
Die Vorgaben der „Zentralen Stelle für Krisenmanagement“ seien durch die Sicherheitskräfte und insbesondere auch die syrischen Geheimdienste umgesetzt worden. Diese hätten Protestkundgebungen unter Einsatz tödlichen Schusswaffengebrauchs zerschlagen. Täglich seien massenhaft Verhaftungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern vorgenommen und diese in die Gefängnisse der Geheimdienste gebracht worden, unter anderem auch in das Gefängnis der Abteilung 251 des syrischen Allgemeinen Geheimdienstes in Damaskus. Dort seien die Gefangenen ohne rechtsstaatliches Verfahren eingesperrt, misshandelt und gefoltert worden.
Die Gewalt sei nicht nur isoliert und zufällig angewendet worden, sondern im Rahmen einer umfassenden Strategie des Regimes. Die syrische Bevölkerung habe gefügig gemacht werden sollen.
Nach Bewertung des Senats war dieser Angriff auf die syrische Zivilbevölkerung nicht nur in quantitativer Hinsicht ausgedehnt, sondern auch in qualitativer Hinsicht systematisch.
Im Gefängnis der Vernehmungsunterabteilung der Abteilung 251 begangene Taten und Mittäterschaft des Angeklagten
Der Senat ist zu der Feststellung gelangt, dass in dem der Vernehmungsunterabteilung der Abteilung 251 des Syrischen Allgemeinen Geheimdienstes in Damaskus angeschlossenen Gefängnis im Zeitraum von Ende April 2011 bis Anfang September 2012 mindestens 4.000 Gefangene inhaftiert waren. Die Häftlinge seien bei ihren Vernehmungen auf verschiedene Weise, etwa durch Schläge mit Kabeln oder Stöcken, Tritte und Elektroschocks, brutal gefoltert worden. Um die Gefangenen zu erniedrigen und zu demütigen, sei auch sexuelle Gewalt eingesetzt worden. Die Häftlinge seien außerhalb der Vernehmungen ebenfalls den Misshandlungen des Gefängnispersonals ausgesetzt gewesen und unter unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen in dem überfüllten Gefängnis festgehalten worden. Neben der selbst erlittenen Gewalt und Folter hätten die Gefangenen besonders unter den permanent hörbaren Schmerzensschreien der gefolterten Mithäftlinge gelitten. In dem stark überfüllten Gefängnis sei den Gefangenen teilweise das Schlafen nicht möglich gewesen. Medizinische Versorgung sei verweigert worden, die ausgegebenen Nahrungsmittel seien unzureichend und oftmals ungenießbar gewesen.
27 inhaftierte Personen seien im Zeitraum von Ende April 2011 bis Anfang September 2012 infolge der Folter, der anderen Misshandlungen oder der Haftbedingungen gestorben.
Zur Rolle des Angeklagten hat der Senat festgestellt, dass dieser Mitglied des syrischen Allgemeinen Geheimdienstes und dort in herausgehobener Position tätig gewesen sei. Ihm habe die Vernehmungsunterabteilung der für den Raum Damaskus zuständigen Abteilung 251 des Allgemeinen Geheimdienstes – auch bezeichnet als Al-Khaib- Abteilung – unterstanden. In dieser Funktion sei der Angeklagte auch für das an die Vernehmungsabteilung angeschlossene Gefängnis zuständig gewesen.
Als Leiter der Vernehmungsabteilung sei der Angeklagte für die dortigen Geschehnisse einschließlich derjenigen im Gefängnis im Tatzeitraum April 2011 bis September 2012 verantwortlich gewesen. Er habe die Abläufe in dem Gefängnis überwacht und maßgeblich bestimmt und somit Tatherrschaft gehabt. Obgleich der Angeklagte die Taten nicht persönlich ausgeführt habe, seien ihm diese aufgrund seiner Entscheidungs- bzw. Befehlsgewalt zuzurechnen.
Der Senat hat den Angeklagten aus diesem Grund als Mittäter verurteilt.
Mord aus niedrigen Beweggründen
Im Tatzeitraum sind im Al-Kathib-Gefängnis infolge der Misshandlungen 27 Menschen zu Tode gekommen. Der Senat sieht insoweit in der Person des Angeklagten das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes erfüllt. Der Angeklagte habe in seinem Dienst für den syrischen Geheimdienst friedliche politische Gegner bis hin zu ihrer physischen Vernichtung bekämpfen wollte. Dieser Kampf habe dem Ziel gedient, den Sturz des totalitären Regimes zu verhindern. Auf dieser Weise habe der Angeklagte zugleich seine angesehene soziale Stellung als Oberst des Allgemeinen Geheimdienstes und die damit verbundenen Privilegien erhalten wollen. Hierin hat der Senat niedrige Beweggründe erkannt.
Kein entschuldigender Notstand
Die Verteidigung hat die Auffassung vertreten, der Angeklagte könne wegen entschuldigenden Notstands (§ 35 StGB) nicht für seine Tat zur Verantwortung gezogen werden. Ein Verlassen seines Postens und eine Abkehr vom syrischen Regime wäre für ihn und seine Familie lebensgefährlich gewesen, er habe die Rache des Regimes fürchten müssen.
Der Senat hat das Vorliegen eines entschuldigenden Notstands jedoch verneint. Er hat festgestellt, dass der Angeklagte im Dezember 2012 die Flucht aus Syrien ergriffen hat. Nach Überzeugung des Senats hätte der Angeklagte Syrien jedoch bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt verlassen können. In Anbetracht der Schwere der verübten Straftaten sei für den Angeklagten zumutbar gewesen, sich diesen Taten auch unter Inkaufnahme hoher persönlicher Risiken zu entziehen.
Grundlage der Sachverhaltsfeststellungen des Senats:
Die Feststellungen des Senats stützen sich auf die auf die Aussagen der mehr als 80 vernommenen Zeugen, darunter zahlreiche sachverständige Zeugen und Zeugen aus dem Ausland, die Angaben von Sachverständigen und die erhobenen Urkunds- und Augenscheinsbeweise. U.a. wurde eine Auswahl von Fotografien der sogenannten „Caesar-Dateien“ – nach Überzeugung des Senats Lichtbilder eines ehemaligen syrischen Militärfotografen – in Augenschein genommen und durch einen Sachverständigen forensisch bewertet. Neben zahlreichen weiteren Urkunden wurden Berichte von internationalen und Menschenrechtsorganisationen in den Prozess eingeführt.
Strafmaß und Feststellung der besonderen Schwere der Schuld:
Der Gesetzgeber sieht sowohl für Mord als auch für Straftaten nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe vor. Der Senat hat entsprechend auf eine solche erkannt.
Von der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld des Angeklagten hat der Senat abgesehen. Zu diesem Ergebnis ist der Senat nach einer umfassenden Abwägung gelangt. Berücksichtigt hat er unter anderem den Umstand, dass die Taten zehn Jahre zurückliegen, dass der Angeklagte nicht eigenhändig Gewalt ausgeübt hat und bezüglich der Tötungen nur bedingten Vorsatz hatte. Schließlich hat er sich vom Regime losgesagt.
Dies bedeutet, dass nach 15 Jahren geprüft wird, ob die lebenslange Freiheitsstrafe des Angeklagten zur Bewährung ausgesetzt werden kann.
Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Koblenz:
Das sogenannte Weltrechtsprinzip erlaubt die weltweite Verfolgung von Straftaten, unabhängig vom Tatort und von der Nationalität von Täter und Opfer. Es beruht auf dem Gedanken, dass die Verfolgung von völkerrechtlichen Kernverbrechen im Interesse der Menschheit als solcher liegt. Das Weltrechtsprinzip ist in § 1 Satz 1 des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs aufgenommen worden. Die Vorschrift begründet die Zuständigkeit deutscher Gerichte u.a. für Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.
Die Zuständigkeit des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts Koblenz ist gemäß §§ 13 Abs. 1, 8, 9 StPO i.V.m. § 120 Abs. 1 Nr. 8 GVG begründet. Der frühere Mitangeklagte Eyad A. war nämlich in Zweibrücken wohnhaft und festgenommen worden, weshalb nach den vorgenannten Vorschriften auch die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Koblenz für den Angeklagten Anwar R. begründet ist.
Das Strafverfahren gegen Eyad A. wurde abgetrennt und unter dem Aktenzeichen 1 StE 3/21 weitergeführt. In diesem Verfahren ist am 24. Februar 2021 ein Urteil des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts Koblenz ergangen, das noch nicht rechtskräftig ist (siehe dazu Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Koblenz vom 24. Februar 2021).
Quelle: OLG Koblenz, Pressemitteilung vom 13. Januar 2022