Im letzten Jahr sind bei den erstinstanzlichen Zivilkammern des Landgerichts Stuttgart so viele Klagen eingegangen wie noch nie zuvor. Mit rund 18.500 Klagen haben die Eingangszahlen am Hauptstadtgericht in nur vier Jahren um fast 80 Prozent zugelegt und einen neuen Höchststand erreicht.

Dafür ist die Flut an Dieselklagen maßgeblich. Alleine im letzten Jahr wurden rund 8.500 Klagen gegen die Mercedes-Benz Group erhoben und damit nochmals 70 Prozent mehr als im Vorjahr. Mit insgesamt rund 16.000 Dieselklagen (Stand 30.06.2022) ging mehr als jede zweite in Deutschland erhobene Klage gegen den Stuttgarter Autobauer beim Landgericht Stuttgart ein.

Verfahrensstau in allen Zivilverfahren
„Das Landgericht befindet sich angesichts dieser beispiellosen Klagewelle in einer Ausnahmesituation“, erläutert der Präsident Dr. Andreas Singer. „Die Klagewelle hat gravierende Auswirkungen auf die Bestände und die Verfahrenslaufzeiten“, zeigt sich Singer besorgt: „Mit rund 13.000 anhängigen erstinstanzlichen Zivilverfahren zum 31.12.2021 haben sich die Bestände seit Beginn der Klagewelle verdoppelt4. Hat ein erstinstanzliches Zivilverfahren 2017 im Durchschnitt noch 6,8 Monate gedauert, so dauerte es 2021 bereits 8 Monate.“ Von diesem Verfahrensstau seien letztlich alle Zivilverfahren betroffen. Gleichzeitig arbeiteten die Beschäftigten mittlerweile im fünften Jahr in Folge an der Belastungsgrenze, so der Präsident.


Neustellen: Landgericht künftig besser aufgestellt
Mit dem Haushalt 2022 hat das Landgericht Stuttgart zur Bewältigung der Dieselklagewelle 17 Richterstellen und 10 Neustellen im Rechtspfleger- und Servicebereich er-halten, die jetzt sukzessive besetzt werden. „Wir sind sehr dankbar, dass unser Gericht diese Unterstützung erfährt“, dankt der Präsident der Justizministerin und dem Land-tag. „Mit den Neustellen wollen wir effektiven und schnellen Rechtsschutz garantieren. Denn das Vertrauen der Menschen in die Rechtsprechung hängt nicht nur davon ab, dass sie Recht bekommen, sondern auch davon, wann sie es bekommen. Dank der Personalverstärkungen ist das Landgericht künftig deutlich besser aufgestellt“, sagt Singer. Ergänzend würden die Sonderlasten der Zivilabteilung durch die neue Geschäftsverteilung auf alle Schultern des Landgerichts verteilt. Zur Stärkung der Zivilkammern konnten insgesamt acht neue erstinstanzliche Zivilkammern gegründet und bereits bestehende Zivilkammern vergrößert werden.

Ende der Massenverfahren nicht in Sicht
Die Personalverstärkung ist mit Blick auf das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die Mercedes Benz Group AG zum Thermofenster (Rechtssache C-100/21) dringend erforderlich. Sollte der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwaltes vom 2. Juni 2022 folgen, steht eine weitreichende Haftung des Stuttgarter Autobauers entgegen der bislang überwiegenden Rechtsprechung deutscher Gerichte im Raum5. Ungeachtet dessen müssen die Altbestände rasch abgearbeitet werden.
Diesel wird auch nicht das Ende der Massenverfahren sein. Beim Landgericht rollen bereits ganz neue Klagewellen an. Beispielsweise machen Verbraucher verstärkt Ansprüche gegen Online-Casinos geltend. Diese waren in Deutschland in der Vergangenheit vollständig verboten und unterliegen auch heute noch strengen Beschränkungen. Da dieses Verbot jedoch häufig umgangen wurde, machen Verbraucher nun die Rückzahlung ihrer verlorenen Spieleinsätze gegen die oft im Ausland ansässigen Betreiber von Online-Casinos geltend.
Hinzu kommen zunehmend Klagen aus dem Datenschutzrecht. „Bei Datenschutzverstößen können seit der gesetzlichen Neuregelung Schadensersatzansprüche der betroffenen Verbraucher bestehen. Die Eingangszahlen solcher Klagen schnellen bereits jetzt in die Höhe und wir erwarten einen weiteren Anstieg“, sagt Singer.
Die Klagewelle betreffend Prämienerhöhungen von privaten Krankenversicherern hat das Landgericht bereits voll erfasst: „Die Versicherten greifen die Wirksamkeit der Erhöhung ihrer monatlichen Versicherungsbeiträge an. Bereits 2021 war nahezu eine Vervierfachung solcher Klagen zu verzeichnen und die Tendenz hält an. Auf die massenhaften Prämienfälle hat das Landgericht mit der Gründung einer weiteren Versicherungskammer und eines Kompetenzzentrums für Versicherungsrecht reagiert“, berichtet der Präsident. Die sechs Versicherungskammern haben dazu im April 2022 die neu eröffnete Außenstelle des Landgerichts in der Schellingstraße 15 bezogen.


Bundesgesetzgeber lässt Gerichte und Verbraucher bislang im Stich
„All diese Klagewellen betreffen massenhaft auftretende Sachverhalte, die durch Werbemaßnahmen großer Anwaltskanzleien begleitet werden“, resümiert Singer. „Die Entwicklung hat bereits vor fünf Jahren begonnen und die Gerichte haben noch immer keine geeigneten prozessualen Instrumente, um mit Massenklagen umzugehen“, kritisiert der Landgerichtspräsident. Auch von Massenschäden betroffene Verbraucherinnen und Verbraucher kämen weiterhin nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand und Kostenrisiko zu ihrem Recht. Denn auch nach dem Anschluss an eine Musterfeststellungsklage müssten die Betroffenen ihren Schaden jeder für sich selbst einklagen. „Der Bundesgesetzgeber lässt die Gerichte und Verbraucher bislang im Stich“, klagt Singer.
„In den massenhaft erhobenen Individualklagen geht es immer und immer wieder um ähnlich gelagerte Sachverhalte und parallele Rechtsfragen. Und dennoch müssen unsere 128 Zivilrichterinnen und -richter jede Klage einzeln verhandeln und entscheiden“, so Singer. Dabei sei das Landgericht als erste Instanz bis zur höchstrichterlichen Klärung der grundsätzlichen Rechtsfragen nur eine Durchlaufstation. Und es beanspruche regelmäßig Jahre bis der Instanzenzug ausgeschöpft und der Bundesgerichtshof die ersten Grundsatzentscheidungen gefällt habe. „Hier werden wertvolle Ressourcen der Justiz verbrannt“, so Singer.
„Wir sind auf die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Bundesgerichtshof dringend angewiesen. Nur so bekommen wir schnell Rechtssicherheit in Grundsatzfragen und können eine einheitliche Rechtsprechung von Beginn an sichern. Gleichzeitig muss es den erstinstanzlichen Gerichten zur Schonung der knappen Ressourcen möglich sein, die Parallelverfahren bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofes auszusetzen“, fordert Singer.
Mit der 2020 verabschiedeten EU-Verbandsklagenrichtlinie muss bis Ende des Jahres auch in Deutschland eine über die bisherige Musterfeststellungsklage hinausgehende Sammelleistungsklage eingeführt werden. „Die zwingend vorgeschriebene Umsetzung der Richtlinie ist die Chance der Stunde, den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland klug weiterzuentwickeln. Schnelligkeit, Verbraucherschutz und eine Entlastung der Justiz sollen dabei im Vordergrund stehen“, hofft der Präsident: „Die gerichtliche Praxis muss im Gesetzgebungsverfahren gehört und mit ihren Bedürfnissen ernst genommen werden. Obwohl die Richtlinie bis Ende des Jahres umgesetzt sein muss, gibt es bis heute aber noch nicht einmal einen Referentenentwurf.“ Seiner Überzeugung nach sei ein direkter Zahlungsanspruch am Ende eines schnellen und unkomplizierten Verfahrens bei der Richtlinienumsetzung zentral. Eine Verjährungshemmung etwaiger Ansprüche unabhängig von einem Anschluss an die Sammelklage sei ebenso unumgänglich wie die Bindung an rechtskräftige Feststellungen in gleichgelagerten Verfahren.

Quelle: Landgericht Stuttgart, Pressemitteilung vom 29. Juli 2022

Cookie Consent mit Real Cookie Banner