Am Landgericht München I sind seit März 2019 tausende Verfahren eingegangen, die den Komplex Wirecard betreffen.
Eine Vielzahl von Richterinnen und Richtern sind in ihren Kammern mit verschiedensten Wirecard-Verfahren in Zivil- und Strafrecht befasst. So gingen in dem Komplex seit Mitte 2019 bis zum 31.12.2022 insgesamt 2251 Verfahren am Landgericht München I ein. Auch wurde bereits über das Arrestverfahren gegen Markus Braun und mehrere Schadenersatzklagen entschieden. Seit dem 08.12.2022 läuft zudem die Hauptverhandlung im Strafverfahren mit derzeit angesetzten 100 Verhandlungstagen.
Was ist bisher passiert:
Es begann mit einer Klage der Wirecard AG gegen die Financial Times, Eingang am 22.03.2019, Az. 39 O 4017/19: Hier warf die Wirecard AG der Financial Times falsche Berichterstattung vor. Ziel war die Unterlassung der Berichterstattung sowie eine Entschädigung der Aktionäre. Die Klage richtete sich sowohl gegen die Zeitung als auch gegen den Reporter, der die Artikel hauptsächlich verfasst hatte. Berichte der Zeitung mit Vorwürfen krimineller Manipulationen gegen Wirecard-Manager in Singapur hatten in den Wochen davor mehrfach starke Kursrutsche der Wirecard-Aktie an der Frankfurter Börse zur Folge gehabt. Das Verfahren wurde zunächst für Anfang 2020 terminiert und später wegen Insolvenz der Klägerin im September 2020 unterbrochen. Schließlich wurde die Klage am 28.10.2020 zurückgenommen.
Danach begann die Klagewelle der E&Y-Verfahren im Juni 2020, bei denen Anleger gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft auf Entschädigung klagen. Bisher sind 1.178 Verfahren allein hierzu eingegangen. Insgesamt 9 Bankenkammern des Landgerichts München I sind mit den Klagen befasst. Im März 2022 hat das Landgericht München I ein Kapitalanleger-Musterverfahren gegen E&Y eingeleitet. Das Verfahren wird unter dem Az. 101 KAP 1/22 vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht geführt.
Am 05.05.2022 erklärte die 5. Kammer für Handelssachen die Jahresabschlüsse der Wirecard AG für die Jahre 2017 und 2018 für nichtig (5 HK O 15710/20; Streitwert: 1, 5 Mio. EUR). Weiter bestätigte am 09.06.2022 ebenfalls die 5. Kammer für Handelssachen den Arrest in Höhe von 140 Mio. EUR gegen Markus Braun (5 HK O 17659/21).
Eine Klage auf Feststellung von Schadenersatzforderungen als Insolvenzforderung zur Insolvenztabelle gem. § 38 InsO wurde am 23.11.2022 von der 29. Zivilkammer abgewiesen (29 O 7754/21, Streitwert: 2.525.414,93 EUR)
Derzeit läuft die Hauptverhandlung im Strafverfahren 4. Strafkammer (4 KLs 402 Js 108194/22), in welchem am vergangenen Mittwoch über insgesamt drei Aussetzungsanträge der Verteidigung entschieden wurde:
Pressemitteilung 3/2023 – Bayerisches Staatsministerium der Justiz (bayern.de)
Die für das Wirecard-Verfahren zuständige 4. Große Strafkammer wurde nach Eingang der Anklage vollständig entlastet, dh. es gehen dort derzeit keine weiteren neuen Verfahren ein. Zum Ausgleich hat das Präsidium des Landgerichts München I eine weitere Wirtschaftsstrafkammer eingerichtet.
Die Präsidentin des Landgerichts München I, Dr. Beatrix Schobel:
„Die verschiedenen Wirecard-Verfahren wirken sich bei uns am Landgericht München I auf vielen Ebenen aus. Ich bin sehr stolz auf alle Angehörigen unseres Gerichts, die mitgeholfen haben, den erheblichen Organisationsaufwand zu stemmen. Viele Richterinnen und Richter haben eine Zeitlang einen Großteil ihrer Arbeitskraft aufgewendet oder tun dies noch.
Allein im Strafrecht in der für die erste große Anklage im Wirecardverfahren vor der zuständigen 4. Strafkammer sind es 5 Berufsrichter, davon 2 Ergänzungsrichter sowie zusätzlich 4 Schöffen, davon zwei Ergänzungsschöffen.
Dazu kommt noch der gesamte Unterstützungsbereich, wie Wachtmeister, Geschäftsstellen und Rechtspfleger sowie weiteres Personal aus der Verwaltung. Gerade die Vorbereitungen für die Hauptverhandlung der 4. Strafkammer in der Stettnerstraße waren enorm aufwändig.
Aber auch im Zivilrecht sind bisher insgesamt 9 Bankkammern und 2 Kammern für Handelssachen mit Wirecard befasst gewesen. So wurden in der 5. Kammer für Handelssachen bereits zwei Großverfahren abgeschlossen – für eines davon haben wir ebenfalls ein Akkreditierungsverfahren durchgeführt und den neuen Medienübertragungsraum bei uns im Justizpalast eingeführt.“
Ausblick für das Jahr 2023:
Im Zivilrecht ist am Landgericht München I unter dem Aktenzeichen 5 HK O 17452/21 derzeit die Hauptsacheklage zu dem bereits entschiedenen Arrestverfahren gegen Markus Braun anhängig. Derzeit laufen noch Schriftsatzfristen. Die mündliche Verhandlung soll nicht vor Herbst 2023 beginnen. Das Verfahren umfasst bereits jetzt über 1.000 Seiten.
Im Strafrecht: Es sind für dieses Jahr noch 86 Verhandlungstage anberaumt – vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgrundsatzes in Untersuchungshaftsachen wird jede Woche zweimal verhandelt.
Quelle: Landgericht München I, Pressemitteilung vom 27. Januar 2023