Der Europäische Gerichtshof hat in einem heute verkündeten Urteil die Rechtsansicht des Landgerichts München I zu einstweiligen Verfügungen in Patentstreitsachen bestätigt (C‑44/21).
Die Kammer hatte dem Europäischen Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:
Ist es mit Artikel 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48/EG vereinbar, dass im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes letztinstanzlich zuständige Oberlandesgerichte den Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigern, wenn das Streitpatent kein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat?
Die Richtlinie 2004/48/EG betrifft die Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums.
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung in einer Patentverletzungssache setzt grundsätzlich neben Verfügungsanspruch (Verletzung des Verfügungspatents) und Verfügungsgrund (Dringlichkeit) die Glaubhaftmachung eines hinreichend gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents voraus. Hierfür war es nach der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung für den Erlass einer einstweiligen Verfügung im Falle einer Patentverletzung grundsätzlich nicht ausreichend, dass das geltend gemachte Patent von der Erteilungsbehörde – in diesem Fall dem Europäischen Patentamt – nach eingehender Prüfung erteilt wurde. Mehrere Oberlandesgerichte forderten vielmehr, dass – mit wenigen Ausnahmen – über die fachliche Prüfung der Patentfähigkeit im Erteilungsverfahren durch das Patentamt hinaus eine weitere Bestätigung der Patentierbarkeit erbracht wird. Denn von einem gesicherten Rechtsbestand könne nur ausgegangen werden, wenn sich das Patent bereits in einem Einspruchs-/Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) oder beim Bundespatentgericht im Nichtigkeitsverfahren als rechtsbeständig erwiesen haben. Für die Annahme eines gesicherten Rechtsbestands eines Patentes sollte nach dieser Ansicht das geprüfte und erteilte Patent grundsätzlich vor Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen seiner Verletzung ein weiteres Mal, in einem Rechtsbestandsverfahren, auf seine Patentfähigkeit hin geprüft worden sein.
Eine solche Auslegung war aus Sicht der vorlegenden 21. Zivilkammer des Landgerichts München I europarechtswidrig.
„Nach Art. 9 Abs. 1 der Durchsetzungsrichtlinie soll sichergestellt sein, dass gegen einen Patentverletzer eine einstweilige Maßnahme angeordnet werden kann, um die Fortsetzung einer Patentverletzung zu untersagen. Das ist aber nach der mit diesem Vorlagebeschluss zur Überprüfung gestellten Rechtsprechung nicht möglich, denn ein – wie im vorliegenden Fall – gerade erst erteiltes Patent kann ein Rechtsbestandsverfahren noch gar nicht durchlaufen haben (Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren sind erst nach Patenterteilung möglich). Auch viele Patente, deren Erteilung bereits lange zurück liegt, haben oftmals im Zeitpunkt der Beantragung einer einstweiligen Maßnahme noch kein solches Rechtsbestandsverfahren durchlaufen; der Patentinhaber hat naturgemäß auch gar keinen Einfluss darauf, ob sein Patent nach Erteilung mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen wird. Eine einstweilige Maßnahme kann dann trotz eines akuten Verletzungssachverhaltes grundsätzlich erst ergehen, wenn ein Rechtsbestandsverfahren erstinstanzlich abgeschlossen ist, was viele Monate oder gar Jahre dauern kann. Die Fortsetzung der Patentverletzung muss in dieser Zeit nach der zur Überprüfung gestellten Rechtsprechung hingenommen werden, obwohl im Falle eines Patentes – anders als bei anderen Rechten des geistigen Eigentums – bereits eine eingehende fachliche Prüfung erfolgt, bevor es erteilt werden kann.“
Das vorlegende Gericht sah sich dazu gezwungen, entgegen seinem Verständnis der Regelung in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48/EG die Anordnung einstweiliger Maßnahmen im Falle einer Patentverletzung grundsätzlich zu verweigern, wenn das verletzte Patent noch kein kontradiktorischen Bestandsverfahren durchlaufen hatte und auch die in der Rechtsprechung statuierten Ausnahmen von diesem Grundsatz nicht griffen.
Auf die Vorlage hin hat der Europäische Gerichtshof nun die Rechtsansicht der 21. Zivilkammer uneingeschränkt bestätigt:
„Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat.“
Zur Begründung führt der EuGH unter anderem aus:
„Mit einer solchen Rechtsprechung [also der vom Landgericht München I als europarechtswidrig bezeichneten Rechtsprechung der Oberlandesgerichte] wird ein Erfordernis aufgestellt, das Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/48 jede praktische Wirksamkeit nimmt, da es dem nationalen Richter verwehrt ist, im Einklang mit dieser Bestimmung eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um die Verletzung des in Rede stehenden, von ihm als rechtsbeständig und verletzt erachteten Patents unverzüglich zu beenden.“
Quelle: Landgericht München I, Pressemitteilung vom 28. April 2022