Nach dem Tod eines Fahrradfahrers auf dem S-Bahnhof Ohlsdorf im Juni letzten Jahres hat das Landgericht Hamburg die Anklage gegen einen 62-Jährigen wegen Körperverletzung mit Todesfolge nicht zugelassen und die Eröffnung des Hauptverfahrens mit Beschluss vom 30. März 2023 abgelehnt. Der Entscheidung zufolge besteht kein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten, dem die Staatsanwaltschaft vorgeworfen hatte, den zu Tode gekommenen Radfahrer gezielt angerempelt zu haben, so dass dieser von einer abfahrenden S-Bahn erfasst wurde. Nach Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens anhand der Videoaufzeichnungen vom Umfallort sei es hoch wahrscheinlich, dass der Angeschuldigte den Verstorbenen überhaupt nicht bewusst wahrgenommen hatte, vielmehr selbst von dem Zusammenstoß überrascht wurde. Die Nichteröffnungsentscheidung ist rechtskräftig.
Gegenstand der Anklage war ein Geschehen vom 7. Juni 2022 am S-Bahnhof Ohlsdorf, bei dem es zu einem Zusammenstoß zwischen dem Angeschuldigten und einem 56-Jährigen kam, der mit einem Fuß auf dem Pedal seines Fahrrads über den Bahnsteig rollte. Der Geschädigte stürzte infolge der Kollision zwischen zwei Waggons einer ausfahrenden S-Bahn und erlitt schwere innere Verletzungen, denen er trotz Reanimationsversuchen vor Ort erlag. Der Angeschuldigte setzte einen Notruf ab und entfernte sich vom S-Bahnhof, nahm anschließend Kontakt mit der Polizei auf und wurde zwei Tage später nach Rückkehr von einer Reise am Flughafen Hamburg festgenommen. Am 28. Juni 2022 wurde der Angeschuldigte gegen Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen.
Der Anklage zufolge soll der Angeschuldigte den Zusammenstoß aus Verärgerung über das Radfahren auf dem Bahnsteig bewusst herbeigeführt haben, indem er sich gezielt in Richtung des Geschädigten bewegte und seinen Körper in Erwartung des Aufpralls anspannte. Laut Anklage war der Angeschuldigte gereizt, weil er einen Flug erreichen wollte, die S-Bahn aber verspätet und kein Taxi verfügbar gewesen sei, und habe den Geschädigten wegen dessen unangemessenen Verhaltens disziplinieren wollen.
Ausreichende Beweise für einen in diesem Sinne vorsätzlich herbeigeführten Zusammenstoß liegen dagegen nach der Bewertung der zuständigen Schwurgerichtskammer nicht vor. Das Gericht stützt sich dabei auf die Videoaufzeichnungen des Geschehens sowie deren Auswertung durch einen vom Gericht beauftragten Unfallsachverständigen, der den Geschehensablauf rekonstruiert hat. Nach dessen Gutachten war das Blickfeld des Angeschuldigten – anders als es die Perspektive der Videoaufzeichnung von oben suggeriert – aufgrund einer Vielzahl von Personen auf dem Bahnsteig so verdeckt, dass der Geschädigten für ihn erst kurz vor dem Zusammenstoß erkennbar war. Aufgrund der schwierigen Sichtverhältnisse sei es deshalb fernliegend, dass in der Hauptverhandlung nachgewiesen werden könne, der Angeschuldigte habe die Kollision bewusst herbeigeführt. Sein Verhalten vor und nach dem Geschehen spreche vielmehr dafür, dass der Angeschuldigte von dem Zusammenstoß überrascht wurde, was auch den Wahrnehmungen von Augenzeugen am Bahnsteig entsprochen habe. Dass der Angeschuldigte sich nach dem Notruf nicht als Zeuge vor Ort zur Verfügung gehalten hatte, erlaube keinen Rückschluss auf eine vorsätzliche Herbeiführung der Kollision. Wenn das Geschehen sich aus der Sicht des Angeschuldigten so dargestellt habe, dass nicht er den Geschädigten, sondern umgekehrt dieser ihn anrempelte und dabei das Gleichgewicht verlor, sei es begreiflich, dass der Angeschuldigte von einem bloßen Unfallgeschehen ohne Fremdverschulden ausgegangen sei und seine geplante Reise angetreten habe. Auch habe er inmitten der Menschenmenge auf dem Bahnsteig nicht damit rechnen müssen, dass eine andere Person mit dem Fahrrad seinen Weg kreuzen würde, weshalb auch ein Tatverdacht wegen fahrlässiger Tötung ausscheide.
Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 30. März 2023 ist rechtskräftig.
Quelle: Landgericht Hamburg, Pressemitteilung vom 12. April 2023