Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde einer sich als non-binär identifizierenden Person mit deutscher Staatsagehörigkeit gegen ihre bereits erfolgte Auslieferung nach Ungarn stattgegeben.
Der beschwerdeführenden Person wird in Ungarn zur Last gelegt, im Februar 2023 gemeinsam mit weiteren Personen vermeintliche Sympathisanten der rechtsextremen Szene in Budapest angegriffen zu haben. Im Dezember 2023 wurde sie in Berlin festgenommen. Am 27. Juni 2024 erklärte das Kammergericht ihre Auslieferung nach Ungarn für zulässig. Mit Beschluss vom 28. Juni 2024 hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Übergabe der beschwerdeführenden Person an die ungarischen Behörden im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt (vgl. Pressemitteilungen Nrn. 55/2024 und 67/2024). Die beschwerdeführende Person wurde jedoch noch vor dem Erlass der einstweiligen Anordnung an die ungarischen Behörden übergeben.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die beschwerdeführende Person gegen ihre Auslieferung. Sie rügt unter anderem eine Verletzung ihres Rechts aus Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh).
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. Das Kammergericht ist seiner Pflicht zur vollständigen Aufklärung des für die Überstellung erheblichen Sachverhalts nicht hinreichend gerecht geworden. Insbesondere hat es die Haftumstände, die die beschwerdeführende Person in Ungarn erwarteten, nicht hinreichend aufgeklärt.
Sachverhalt:
Der beschwerdeführenden Person wird von den ungarischen Behörden zur Last gelegt, im Februar 2023 als Mitglied einer kriminellen Vereinigung gemeinsam mit weiteren Personen Sympathisanten der rechtsextremen Szene oder von ihnen hierfür gehaltene Personen in Budapest angegriffen und verletzt zu haben. Unter anderem aufgrund eines auf Betreiben der ungarischen Behörden erlassenen Europäischen Haftbefehls wurde sie im Dezember 2023 in Berlin festgenommen.
Die beschwerdeführende Person machte Auslieferungshindernisse geltend. Sie bezog sich insoweit insbesondere auf eidesstattliche Versicherungen ehemals in ungarischen Haftanstalten inhaftierter Personen und Berichte des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (Committee for the Prevention of Torture, CPT) sowie der Nichtregierungsorganisation Hungarian Helsinki Committee (HHC). Zudem sei zu berücksichtigen, dass sie sich selbst als non-binäre Person verstehe. In der Folge wandte sich die Generalstaatsanwaltschaft Berlin an die ungarischen Justizbehörden und bat unter anderem um eine Zusicherung, dass die beschwerdeführende Person im Fall ihrer Auslieferung in einer Haftanstalt untergebracht werden würde, die der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen genüge. Darüber hinaus bat sie um Auskünfte zu etwaigen Übergriffen auf sich als non-binär verstehende Gefangene und damit korrespondierenden Schutzmaßnahmen in ungarischen Haftanstalten.
Mit Verbalnote vom 29. April 2024 übermittelte das ungarische Justizministerium eine Garantieerklärung der Landeskommandantur des Justizvollzugs. Bei der Europäischen Menschenrechtskonvention, der UNO-Empfehlung über die Mindestgrundsätze für die menschenwürdige Behandlung von inhaftierten Personen sowie der Empfehlung des Europarates über Europäische Strafvollzugsgrundsätze handele es sich um Richtlinien, denen sich Ungarn als Mitgliedstaat der Europäischen Union angeschlossen habe und die in die Erfüllung der Aufgaben der ungarischen Justizorgane allmählich integriert worden seien. Es seien keine gewaltsamen oder sonstigen Übergriffe bekannt, die mit der Geschlechtsidentität der betroffenen Person in Verbindung gebracht werden könnten.
Im weiteren Verlauf beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, die Überstellung der beschwerdeführenden Person nach Ungarn für zulässig zu erklären. Die beschwerdeführende Person trat dem entgegen: Ein sich aufdrängendes Auslieferungshindernis könne nur dadurch ausgeräumt werden, dass die ungarischen Justizbehörden eine einzelfallbezogene und völkerrechtlich verbindliche Zusicherung abgäben. Die vollstreckende Justizbehörde könne sich vorliegend auf eine allgemeine Zusicherung bereits deshalb nicht verlassen, weil hinsichtlich mehrerer Haftanstalten konkrete Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Haftbedingungen gegen Art. 4 GRCh – das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung – verstießen.
Das Kammergericht erklärte die Auslieferung mit Beschluss vom 27. Juni 2024 für zulässig.
Auslieferungshindernisse seien nicht ersichtlich. Insbesondere stünden die Haftbedingungen in Ungarn der Auslieferung nicht entgegen. Nicht zu beanstanden sei, dass die mit Verbalnote vom 29. April 2024 übermittelte Garantieerklärung ausschließlich die allgemeine Rechtslage und die Haftbedingungen in den ungarischen Justizvollzugsanstalten beschreibe und nicht ausdrücklich menschenrechtskonforme Haftbedingungen für die beschwerdeführende Person völkerrechtlich verbindlich zusichere. Es lägen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Haftbedingungen in ungarischen Haftanstalten gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstießen.
Auch die Selbstbezeichnung der beschwerdeführenden Person als non-binär hindere die Auslieferung nicht. Zwar werde durch die Erkenntnisse des HHC belegt, dass es in ungarischen Gefängnissen zu Übergriffen auf sich als non-binär verstehende, homo- oder transsexuelle Personen komme. Die ungarischen Behörden hätten diesbezüglich aber mitgeteilt, dass in allen Haftanstalten Ungarns eine Risikoanalyse hinsichtlich jeglicher Gefährdungslagen (aus Gründen der sexuellen Orientierung, der geschlechtlichen Identität, der politischen Meinung der inhaftierten Person, ihrer Herkunft oder aus sonstigen Gründen) erfolge und im Rahmen eines Risikomanagementsystems die Maßnahmen ausgewählt würden, mit denen am besten auf ein erkanntes Risiko reagiert werden könne. Im Fall der beschwerdeführenden Person werde sich die Garantieübernahme aus deren Registrierungsakte ergeben und die ungarischen Vollzugsbehörden zu einer besonders sorgfältigen Risikoanalyse veranlassen, in deren Rahmen auch dem Umstand Rechnung getragen werde, dass sie sich als non-binär verstehe.
In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 2024 wurde mit der Überstellung der beschwerdeführenden Person an die ungarischen Behörden begonnen. Sie wurde am 28. Juni 2024 um 6.50 Uhr zwecks Durchlieferung nach Ungarn von den deutschen an die österreichischen Behörden übergeben. Auf ihren gegen 7.38 Uhr eingegangenen Antrag erließ das Bundesverfassungsgericht um 10.50 Uhr eine einstweilige Anordnung und untersagte vorläufig die Übergabe der beschwerdeführenden Person an die ungarischen Behörden. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin wurde zudem angewiesen, durch geeignete Maßnahmen eine Übergabe der beschwerdeführenden Person an die ungarischen Behörden zu verhindern und ihre Rückführung in die Bundesrepublik Deutschland zu erwirken. Das Bundesverfassungsgericht wurde durch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin erst um 11.47 Uhr über die bereits um 10.00 Uhr erfolgte Übergabe der beschwerdeführenden Person von den österreichischen an die ungarischen Behörden informiert.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die beschwerdeführende Person gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 27. Juni 2024.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Soweit die beschwerdeführende Person eine Verletzung von Art. 4 GRCh rügt, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet.
I. Die beschwerdeführende Person hat ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis. Zwar gehen von der angegriffenen Entscheidung nach der erfolgten Überstellung keine Rechtswirkungen mehr aus. Allerdings stellt die für zulässig erklärte Überstellung nach Ungarn einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff dar, der weiterhin fortwirkt. Denn die beschwerdeführende Person befindet sich zurzeit in einer Justizvollzugsanstalt in Ungarn. Hinzu kommt, dass sich die angegriffene Entscheidung aufgrund der konkreten zeitlichen Abläufe des Überstellungsverfahrens in einer Zeitspanne erledigt hat, in welcher sie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine Verfassungsbeschwerde nicht hätte erlangen können.
II. Der angegriffene Beschluss verletzt die beschwerdeführende Person in ihrem Grundrecht aus Art. 4 GRCh. Das Kammergericht ist seiner hieraus folgenden Pflicht zur vollständigen Aufklärung des für die Überstellung erheblichen Sachverhalts nicht in jeder Hinsicht gerecht geworden.
1. Das Kammergericht hat bereits die Haftumstände, die die beschwerdeführende Person erwarteten, nicht hinreichend aufgeklärt.
Hinsichtlich der Haftbedingungen in ungarischen Justizvollzugsanstalten lagen dem Kammergericht aufgrund des ausführlichen Vortrags der beschwerdeführenden Person hinreichende Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel vor. So wies die beschwerdeführende Person unter anderem auf die steigende Überbelegung ungarischer Justizvollzugsanstalten sowie auf Gewalt gegen Häftlinge durch Mithäftlinge oder auch Personal der Justizvollzugsanstalten und Defizite hinsichtlich des Rechtswegs hin. Eine vom Kammergericht in Bezug genommene Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle führt zwar aus, es bestünden keinerlei konkrete Anhaltspunkte mehr dafür, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt in Ungarn gegen Art. 4 GRCh verstießen, wobei dieses Gericht darauf abgestellt hatte, dass die ungarische Regierung im Jahr 2020 Maßnahmen gegen die Überbelegung der Justizvollzugsanstalten angeordnet habe und sich dem CPT-Bericht vom 17. März 2020 eine deutliche Verbesserung der Bedingungen in den besuchten Haftanstalten entnehmen lasse. Mit den im fachgerichtlichen Verfahren angeführten Unterlagen, insbesondere den eidesstattlichen Erklärungen ehemaliger Insassen ungarischer Justizvollzugsanstalten sowie den aktuellen Berichten des HHC, lagen dem Kammergericht allerdings diesen Erkenntnissen widersprechende Angaben teils jüngeren Datums vor. Das Kammergericht hat sich dennoch auf die ältere Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle gestützt, ohne sich hinreichend mit den Angaben jüngeren Datums auseinandergesetzt zu haben.
Auch die abgegebenen Erklärungen der ungarischen Behörden sind nicht geeignet, das Risiko einer Art. 4 GRCh zuwiderlaufenden Behandlung ohne Weiteres auszuschließen. Die ungarischen Behörden verweisen allgemein auf die Rechtslage unter Bezugnahme auf ein Gesetz aus dem Jahr 2013, ohne sich zu den tatsächlichen Haftbedingungen zu verhalten oder eine auf die beschwerdeführende Person bezogene Zusicherung abzugeben. Hinzu kommt, dass dem Kammergericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bekannt war, dass die ungarischen Behörden nunmehr eine konkrete Haftanstalt benannt hatten, in der die Untersuchungshaft vollzogen werden würde. Insofern hätte es sich aufgedrängt, die dortigen Haftbedingungen näher aufzuklären. Zudem entbinden Erklärungen des um die Überstellung ersuchenden Staates nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose angesichts der aktuellen Lage anzustellen, um die Situation einschätzen zu können und so die Voraussetzungen für eine Prüfung der Belastbarkeit einer abgegebenen Zusicherung zu schaffen. Eine diesbezügliche hinreichende Prüfung fehlt in der angegriffenen Entscheidung. Gleiches gilt in Bezug auf die Zusicherung der ungarischen Behörden, dass deutsche Konsularbeamte und Diplomaten die Möglichkeit hätten, die Justizvollzugsanstalt zu betreten und im Hinblick auf die Haftbedingungen zu besichtigen sowie die beschwerdeführende Person dort zu besuchen.
2. Auf Grundlage der vorliegenden Auskünfte der ungarischen Behörden und vor dem Hintergrund des ausführlichen Vortrags der beschwerdeführenden Person konnte das Kammergericht auch nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Schutz der beschwerdeführenden Person, die sich als non-binär identifiziert, hinreichend gewährleistet werden wird.
Die Annahme des Kammergerichts, wonach eine Risikoanalyse „hinsichtlich jeglicher Gefährdungslagen (aus Gründen der sexuellen Orientierung, der geschlechtlichen Identität, der politischen Meinung der inhaftierten Person, ihrer Herkunft oder aus sonstigen Gründen)“ erfolgen werde, ergibt sich jedenfalls in dieser Spezifität nicht aus der Garantieerklärung der Landeskommandantur des Justizvollzugs. Die Annahme ist bereits deshalb nicht überzeugend, weil das Gericht im Haftanordnungsbeschluss noch davon ausging, dass die Politik der aktuellen ungarischen Regierung als gender-, homo- und transfeindlich bezeichnet werden müsse und früher in Ungarn erreichte Maßnahmen zur Gleichbehandlung von Homosexuellen und Transpersonen in diskriminierender Weise wieder abgebaut würden. Zudem lag dem Kammergericht ein aktueller Bericht des HHC vom 27. Mai 2024 vor, demzufolge lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie queere Insassen in ungarischen Justizvollzugsanstalten einer Diskriminierungsgefahr ausgesetzt seien, die sich verbal oder in Form von körperlichen Belästigungen durch andere Insassen oder durch Bedienstete der Justizvollzugsanstalt äußern könne.
Soweit das Kammergericht der Ansicht ist, dass sich im Fall der beschwerdeführenden Person die Garantieübernahme aus ihrer Registrierungsakte in der Justizvollzugsanstalt ergebe und dies zu einer besonders sorgfältigen Risikoanalyse unter Berücksichtigung der Identifizierung als non-binär führen werde, ergibt sich aus den vorgelegten Unterlagen allerdings nicht, dass ihre geschlechtliche Identität registriert werden würde. Die ungarischen Behörden haben vielmehr erklärt, dass ein Register über die Geschlechtsidentität der Gefangenen nicht geführt werde. Wenn aber Angriffe aus Gründen der Geschlechtsidentität der Angegriffenen nicht als solche registriert werden beziehungsweise worden sind, erschließt sich nicht, wie gezielt gegen Diskriminierungen im Zusammenhang mit der Geschlechtsidentität vorgegangen werden kann.
Bundesverfassungsgericht, 06.02.2025