Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Feststellung getroffen, dass eine Vorlage des Thüringer Verfassungsgerichtshofs nach Art. 100 Abs. 3 GG zur Thüringer Verordnung über außerordentliche Sondermaßnahmen zur Eindämmung einer sprunghaften Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 31. Oktober 2020 (Thüringer SARS-CoV-2-Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung) unzulässig ist.

Die im Wesentlichen auf die weit gefasste Generalklausel in § 28 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) gestützte Verordnung sah weitreichende Kontaktbeschränkungen vor, die überwiegend bußgeldbewehrt waren. Ihr Erlass fiel in einen Zeitraum, in dem in der (Fach-)Öffentlichkeit mit zunehmender Intensität darüber diskutiert wurde, ob es angesichts der erheblichen Einschränkungen grundrechtlich geschützter Freiheit mit dem Parlamentsvorbehalt vereinbar sei, dass nicht der Gesetzgeber selbst, sondern die Exekutive mittels Verordnungen festlege, welche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie hinzunehmen seien.

Sachverhalt:

Die Thüringer SARS-CoV-2-Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung wurde zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erlassen. Sie trat Anfang November 2020 in Kraft. Ihre Geltung war bis zum 30. November 2020 befristet.

Rechtsgrundlage für die Thüringer SARS-CoV-2-Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung war § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28, § 29, § 30 Abs. 1 Satz 2 und § 31 IfSG jeweils in den seinerzeit geltenden Fassungen. Diese nicht auf die COVID-19-Pandemie zugeschnittenen Vorschriften ermächtigen die Landesregierungen, unter bestimmten Voraussetzungen durch Rechtsverordnungen Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. § 28a IfSG, der eine gesetzliche Konkretisierung dafür enthält, welche besonderen Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen werden können, wurde erst mit Wirkung zum 19. November 2020 und damit nach Erlass der Thüringer SARS-CoV-2-Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung in das Infektionsschutzgesetz eingefügt.

Mit ihrem abstrakten Normenkontrollantrag vom 10. November 2020 wandte sich die Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) im Thüringer Landtag gegen die Thüringer SARS-CoV-2-Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung.

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof beabsichtigt, seiner Entscheidung über den Normenkontrollantrag Rechtsauffassungen zugrunde zu legen, die seiner Ansicht nach bei der Auslegung des Grundgesetzes von zwei Urteilen des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 26. März 2021 – LVG 25/20 und LVG 4/21 – abweichen. Er hat daher mit Beschluss vom 19. Mai 2021 das Ausgangsverfahren ausgesetzt, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 3 GG einzuholen.

Die ersten beiden der vom Thüringer Verfassungsgericht dem Bundesverfassungsgericht vorgelegten Fragen sind auf die verfassungsrechtliche Prüfung gerichtet, ob es in einer mit Ungewissheiten behafteten Gefahrenlage für eine Übergangszeit zulässig ist, auch eingriffsintensive Ge- und Verbote in Rechtsverordnungen abweichend von den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie und des Parlamentsvorbehalts auf eine Generalklausel zu stützen, und nach welchen abstrakten Kriterien eine solche Übergangszeit zu bemessen ist. Gegenstand von zwei weiteren Vorlagefragen ist die verfassungsrechtliche Prüfung, ob an die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Exekutive im Hinblick auf die Bestimmung von Ordnungswidrigkeitentatbeständen nach Art. 103 Abs. 2 GG strengere Anforderungen zu stellen sind als an die Bestimmung der ihnen zugrundeliegenden Ge- und Verbote nach Art. 80 Abs. 1 GG. Darüber hinaus stellt das Vorlagegericht eine ergänzende Frage zum Prüfungsmaßstab bei der Verletzung des landesverfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Vorlage ist unzulässig.

Das Verfassungsgericht eines Landes hat nach Art. 100 Abs. 3 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einer bestimmten, die Auslegung des Grundgesetzes betreffenden Frage, von einem ebensolchen Rechtssatz in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Verfassungsgerichts eines anderen Landes abweichen will.

I. Danach befassen sich die ersten beiden Vorlagefragen zwar mit tauglichen Beschwerdegegenständen. Es fehlt aber an einem Vorlagegrund. Ein Vorlagegrund ist gegeben, wenn ein Landesverfassungsgericht beabsichtigt, bei der Auslegung des Grundgesetzes von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder anderer Landesverfassungsgerichte abzuweichen.

Bei einer Gegenüberstellung der tragenden Rechtssätze des Vorlagegerichts und des Urteils des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 26. März 2021 – LVG 25/20 -, auf das sich das Vorlagegericht hinsichtlich der ersten beiden Vorlagefragen bezieht, lässt sich in Bezug auf die Auslegung des Grundgesetzes nach den Darlegungen des Vorlagegerichts keine Divergenz feststellen. Soweit der Thüringer Verfassungsgerichtshof den Rechtssatz aufzustellen beabsichtigt, dass ein Rückgriff auf eine Generalklausel in unvorhergesehenen Gefahrensituationen zum Zwecke einer effektiven Gefahrenabwehr für eine Übergangszeit verfassungsrechtlich zulässig sei, auch wenn Maßnahmen ergriffen würden, die im Lichte der Wesentlichkeitstheorie im Grunde näher regelungsbedürftig wären, ist der genannten Entscheidung des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt kein abweichender Rechtssatz zu entnehmen. Vielmehr hat es diese Rechtsfrage ausdrücklich offengelassen, weil ein Übergangszeitraum bei Erlass der dort angegriffenen Landesverordnung jedenfalls bereits abgelaufen gewesen sei.

Die zweite Vorlagefrage bezeichnet zwar eine Divergenz mit dem Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt. Dieses ist, anders als das vorlegende Gericht, der Auffassung, dass ein dem Gesetzgeber möglicherweise einzuräumender Übergangszeitraum, in dem intensiv in Grundrechte eingreifende Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie auf eine Generalklausel gestützt werden könnten, jedenfalls im Herbst 2020 nicht mehr bestanden habe. Die Vorlagefrage ist jedoch so formuliert, dass sie eine von Art. 100 Abs. 3 GG nicht erfasste einzelfallbezogene Frage der Subsumtion zum Gegenstand hat. Der Verfassungsgerichtshof legt nicht dar, dass sich dem Urteil des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt ein seiner eigenen Rechtsauffassung widersprechender abstrakter Rechtssatz zu den an die Dauer eines Übergangszeitraums zu stellenden rechtsstaatlichen Anforderungen entnehmen lässt.

II. Auch hinsichtlich der dritten Vorlagefrage ist die Divergenzvorlage unzulässig.

  1. Zwar liegt auch insoweit ein tauglicher Vorlagegegenstand vor. Die dritte Vorlagefrage zielt auf die das Grundgesetz betreffende Auslegungsfrage, ob an die Ermächtigung der Exekutive zum Erlass von Ordnungswidrigkeitentatbeständen nach Art. 103 Abs. 2 GG strengere Anforderungen zu stellen sind als an die Ermächtigung zum Erlass der ihnen zugrundeliegenden Ge- und Verbote nach Art. 80 Abs. 1 GG.
  2. Doch fehlt es hier ebenfalls an einem Vorlagegrund. Denn die Vorlagefrage ist in dieser Allgemeinheit nach der eigenen Rechtsansicht des vorlegenden Gerichts nicht entscheidungserheblich. Das Vorlagegericht sieht die sich aus Art. 80 Abs. 1 GG ergebenden Bestimmtheitsanforderungen nur deshalb als gewahrt an, weil die dem Gesetzgeber bei unvorhergesehenen Gefahrensituationen für näher bestimmte Regelungen eingeräumte Übergangszeit im Herbst 2020 noch nicht abgelaufen gewesen sei. Ohne Anerkennung eines solchen Übergangszeitraums hätte das Vorlagegericht also nicht nur angenommen, dass die Ordnungswidrigkeitentatbestände Art. 103 Abs. 2 GG verletzen, sondern wäre auch hinsichtlich der eingriffsintensiven Ge- und Verbote davon ausgegangen, dass Art. 80 Abs. 1 GG mangels hinreichend bestimmter Ermächtigungsgrundlage verletzt sei. Für diesen Fall kommt es demnach nicht auf die Frage an, ob Art. 80 Abs. 1 GG generell weniger strenge Anforderungen an eine Ermächtigung zum Erlass gefahrenabwehrrechtlicher Ge- und Verbote stellt als Art. 103 Abs. 2 GG an eine Ermächtigung zu deren Bußgeldbewehrung.

Die dritte Vorlagefrage ist auch dann unzulässig, wenn sie dahin verstanden wird, dass sie auf die verfassungsrechtliche Prüfung gerichtet ist, ob in einer mit Ungewissheiten behafteten Gefahrenlage zwar eingriffsintensive gefahrenabwehrrechtliche Ge- und Verbote für eine Übergangszeit lediglich auf eine Generalklausel gestützt werden können, dies jedoch wegen gesteigerter Bestimmtheitsanforderungen nach Art. 103 Abs. 2 GG nicht für deren Bußgeldbewehrung gilt. Denn das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt hat die so verstandene Frage im Urteil vom 26. März 2021 – LVG 4/21 – nicht abweichend von der Rechtsansicht des Thüringer Verfassungsgerichtshofs verneint. Vielmehr stellte sie sich für das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt nicht, da dieses bereits unter Geltung des neu in Kraft getretenen § 28a IfSG zu entscheiden hatte.

III. Für die vierte Vorlagefrage fehlt es an einem tauglichen Vorlagegegenstand, da diese bloß die Anwendung des unter der dritten Vorlagefrage abgefragten verfassungsrechtlichen Maßstabs auf den konkreten Einzelfall betrifft.

IV. Eine Beantwortung der erweiternden fünften Vorlagefrage, für die kein eigenständiger Vorlagegrund besteht, kommt aufgrund der Unzulässigkeit der übrigen Vorlagefragen nicht in Betracht.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung vom 17. November 2022

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