Mit am heutigen Tag veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde eines für ein Kleinkind bestellten Verfahrensbeistandes nicht zur Entscheidung angenommen. Dieser hat sich dagegen gewandt, dass den Eltern das Sorgerecht wieder übertragen worden ist, obwohl der Verdacht im Raum stand, ein Elternteil oder beide Elternteile hätten das im Vorfallszeitraum rund vier Wochen alte Kind heftig geschüttelt. Das im Sorgerechtsverfahren als Beschwerdegericht zuständige Oberlandesgericht hat den zeitweiligen Entzug des Sorgerechts nicht aufrechterhalten, den Eltern aber Auflagen – insbesondere den Aufenthalt in einer Eltern-Kind-Einrichtung – erteilt, um der Gefahr zukünftiger Schädigungen des Kindes durch seine Eltern zu begegnen.

Der Verfahrensbeistand sah in dieser gerichtlichen Entscheidung eine Verletzung des aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) folgenden Schutzanspruchs des Kindes gegen den Staat, blieb aber mit der Verfassungsbeschwerde erfolglos.

Sachverhalt:

Die Eltern hatten ihr gut vier Wochen altes Kind in einem Krankenhaus vorgestellt. Untersuchungen des Kindes dort sowie in einer Kinderklinik mittels Magnetresonanztomographie zeigten Verletzungen unter anderem der harten Hirnhaut und des Hirngewebes, als deren Ursache vor allem ein Schütteltrauma „stark im Vordergrund stehend“ angenommen wurde. In dem daraufhin eingeleiteten Sorgerechtsverfahren hat sich das Familiengericht ­– gestützt vor allem auf das Gutachten eines rechtsmedizinischen Sachverständigen – davon überzeugt, dass das Kind zwei jeweils durch einen Elternteil verursachte, potentiell lebensgefährliche Schütteltraumata erlitten hat. Wegen der daraus abgeleiteten Gefahr auch weiterer Schädigungen des Kindes im elterlichen Haushalt hat es den Eltern weite Teile des Sorgerechts entzogen.

Auf deren Beschwerde hat das Oberlandesgericht den Beschluss des Familiengerichts aufgehoben und klarstellend ausgesprochen, dass damit den Eltern das Sorgerecht wieder vollständig zustehe. Es hat den Eltern allerdings die Auflage erteilt, sich gemeinsam mit dem Kind in eine Eltern-Kind-Einrichtung zu begeben und dort für eine vom Jugendamt festgelegte Zeit zu verbleiben sowie nach dem Ende des dortigen Aufenthalts ambulante Anschlussmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es bestehe zwar die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verletzungen des Kindes von dem einen oder dem anderen Elternteil verursacht worden seien. Das trotz des mittlerweile höheren Alters des Kindes verbleibende Risiko erneuter, aber weniger schwerwiegender als der in der Vergangenheit festgestellten Verletzungen des Kindes könne zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden. Unter Berücksichtigung des Grades der Wahrscheinlichkeit und der Schwere möglicher Verletzungsfolgen sei zur Gefahrenabwendung eine dauerhafte Fremdunterbringung des Kindes aber nicht erforderlich. Durch die Aufnahme der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung könne das Eintreten einer Überforderungssituation aber sicher vermieden werden.

Dagegen wendet sich der Verfahrensbeistand des Kindes, der mit seiner Verfassungsbeschwerde den Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG im eigenen Namen geltend macht.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die von dem Verfahrensbeistand zulässig in Prozessstandschaft für das Kind erhobene Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Der angegriffene Beschluss hält verfassungsrechtlicher Prüfung noch stand. Die Prognose des Oberlandesgerichts, einer zukünftig drohenden Kindeswohlgefährdung mit den von ihm erteilten Auflagen ausreichend sicher entgegenwirken zu können, ist gemessen an dem Anspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf staatlichen Schutz verfassungsrechtlich hinzunehmen.

1. Kinder haben nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können.

Ob der Staat zum Schutz des Kindes tätig werden muss und darf und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, bestimmt sich nach Art und Ausmaß der Gefahr für das Kind. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit verpflichtet und berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen; vielmehr ist stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern vor dem Staat Rechnung zu tragen. Es hängt regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab, ob die Trennung des Kindes von seinen Eltern verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist. Dem muss die Ausgestaltung des fachgerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Es muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu erlangen.

Hält das Gericht eine Trennung des Kindes von den Eltern nicht mehr für erforderlich, obwohl Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Kind bei einer Rückkehr in die Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist, hält die Entscheidung verfassungsgerichtlicher Kontrolle grundsätzlich nur dann stand, wenn das Gericht in Auseinandersetzung mit den für eine nachhaltige Gefahr sprechenden Anhaltspunkten nachvollziehbar begründet, warum eine solche Gefahr für das Wohl des Kindes nicht vorliegt. Bei der Prognose, ob eine erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit dem auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen wird.

Bestehen Anhaltspunkte, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, insbesondere weil es in der Vergangenheit bereits zu einer solchen Misshandlung kam und die Eltern hierfür auf die eine oder andere Art als verantwortlich anzusehen sind, so verlangt ein Absehen von einer Trennung des Kindes von der Familie ein hohes Maß an Prognosesicherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten wird. Dies schlägt sich in hohen Begründungsanforderungen einer Entscheidung nieder.

2. Daran gemessen wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts sowohl bei der Prüfung der Voraussetzungen für ein Fortbestehen des Sorgerechtsentzugs als auch bei der Prüfung der Anforderungen an die Begründung der fachgerichtlichen Entscheidung den verfassungsrechtlichen Anforderungen trotz deutlicher Anhaltspunkte für eine zukünftig mögliche Kindeswohlgefährdung noch gerecht. Die Prognose des Oberlandesgerichts darüber, ob sich eine erhebliche Schädigung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, ist trotz des hier geltenden strengen Prüfungsmaßstabs verfassungsrechtlich hinzunehmen.

a) Deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des für die nach diesen Maßgaben zu treffende Prognose bedeutsamen Sachverhalts lassen sich nicht annehmen. Für seine Wertung, aufgrund des Alters des betroffenen Kindes sei eine Gefahr eines erneuten Schütteltraumas zwar nicht vollständig entfallen, jedoch deutlich gesunken, kann es sich insoweit jedenfalls auf die Ausführungen des rechtsmedizinischen und des psychiatrischen Sachverständigen stützen. Die Würdigung des Oberlandesgerichts, bei dem betroffenen Kind sei altersbedingt und nach seiner konkreten Entwicklung (nächtliches Durchschlafen) zukünftig nicht mit einem Eintreten heftiges Schütteln auslösender Situationen zu rechnen, kann angesichts tragfähiger Grundlagen nicht als deutlicher Wertungsfehler angesehen werden.

Entsprechendes gilt für die prognostische Wertung des Oberlandesgerichts, mögliche zukünftige körperliche Übergriffe der Eltern gegen ihr Kind hätten voraussichtlich keine derart schwerwiegenden Folgen wie das Schütteln eines Säuglings. Es kann sich dafür in verfassungsrechtlich hinzunehmender Weise auf die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen stützen. Die weitere Wertung, angesichts dieser Ausführungen lasse das zu unterstellende Schütteln des Kindes in der Vergangenheit nicht auf eine zukünftige anderweitige elterliche Gewaltanwendung mit gravierenden körperlichen Schädigungen des Kindes schließen, findet in den Ausführungen des Sachverständigen ebenfalls eine noch tragfähige Grundlage. Das gilt jedenfalls deshalb, weil das Oberlandesgericht zudem festgestellt hat, dass keiner der beiden Elternteile zu erheblichen Gewaltausbrüchen neige.

Ob die festgestellten, für die Gefahrenprognose bedeutsamen Umstände auch ein anderes als das vom Oberlandesgericht gefundene Ergebnis der Prognose erlaubt hätten, unterliegt trotz des hier strengen Maßstabs nicht der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Diese erstreckt sich auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, umfasst aber keine eigene Gefahrenprognose durch das Bundesverfassungsgericht.

b) Der angegriffene Beschluss genügt auch den hier strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung einer Sorgerechtsentscheidung bei Anhaltspunkten für eine Misshandlung des Kindes durch die Eltern in der Vergangenheit noch. Das Oberlandesgericht hat im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen es zu der Einschätzung gelangt ist, dass dem Kind zukünftig keine körperlichen Schäden drohen, die nach Art und Ausmaß denjenigen gleichkommen, die mit dem Schütteln eines Säuglings verbunden sind. Dafür kann es sich insoweit auf die Einschätzungen beider gerichtlich bestellten Sachverständigen stützen. Soweit es in der Bewertung, ob dennoch eine Trennung von Eltern und Kind zu dessen Schutz erforderlich ist, von der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen, der Amtspflegerin und des Beschwerdeführers als Verfahrensbeistand abweicht, wahrt die Begründung noch die verfassungsrechtlichen Anforderungen. Für seine Wertung, die Gefahr einer sonstigen körperlichen Misshandlung des Kindes lasse sich durch einen erneuten Aufenthalt der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung soweit mindern, dass eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht erforderlich ist, konnte es sich auf Erkenntnisse sonstiger fachlich Beteiligter stützen. Dabei handelt es sich vor allem um Berichte der ersten Eltern-Kind-Einrichtung, in der das Kind mit seinen Eltern zeitweilig gelebt hat. Eine weitergehende Bewertung der Tragfähigkeit dieser Berichte ist dem Bundesverfassungsgericht allerdings verwehrt, weil der beschwerdeführende Verfahrensbeistand jedenfalls den Bericht der Einrichtung vom 28. März 2023 nicht vorgelegt hat. Ausweislich der Gründe der angegriffenen Entscheidung soll die Einrichtung die Zusammenarbeit mit den Eltern als durchweg positiv beschrieben haben. Es soll keine Verhaltensauffälligkeiten gegeben haben und eine enge und liebevolle Eltern-Kind-Beziehung sowie eine bedürfnisgerechte Versorgung und das Fehlen von kindeswohlgefährdenden Situationen beobachtet worden sein.

Beschluss vom 20. November 2024 – 1 BvR 1404/24

Bundesverfassungsgericht, 13.12.2024

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