Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Organklage der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) zurückgewiesen, mit der sie geltend gemacht hat, der Deutsche Bundestag hätte bei der Wahlrechtsreform im Jahr 2023 die Erfordernisse von Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge abschaffen oder modifizieren müssen.

Parteien, die im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl nicht aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, benötigen für ihre Teilnahme an der Bundestagswahl mit Ausnahme von Parteien nationaler Minderheiten 200 Unterstützungsunterschriften für jeden Kreiswahlvorschlag und bis zu 2 000 Unterstützungsunterschriften für ihre jeweiligen Landeslisten (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 3, § 27 Abs. 1 Satz 2, jeweils in Verbindung mit § 18 Abs. 2 Bundeswahlgesetz <BWahlG>). Die Antragstellerin, die weder im Bundestag noch in einem Landtag vertreten ist, wendet sich mit einer Organklage gegen diese Vorgaben und hat zuletzt einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

Der Antragsgegner, der Deutsche Bundestag, hat die ÖDP durch das Unterlassen einer Änderung der § 20 Abs. 2 Satz 3 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nicht in ihren Rechten aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) verletzt. Die Unterschriftenerfordernisse beschränken zwar das Wahlvorschlagsrecht. Dies ist aber gerechtfertigt, um den Charakter der Wahl als einen Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern. Auch die Chancengleichheit der Parteien ist nicht verletzt.

Sachverhalt:

Parteien, die im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl nicht aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, können gemäß § 18 Abs. 2 Satz 1 BWahlG nur dann an der Bundestagswahl teilnehmen, wenn sie dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Wahl rechtzeitig angezeigt haben und der Bundeswahlausschuss ihre Parteieigenschaft festgestellt hat. Fällt eine Partei in den Anwendungsbereich dieser Norm, benötigt sie für Kreiswahlvorschläge sowie für die Aufstellung von Landeslisten Unterstützungsunterschriften. Kreiswahlvorschläge dieser Parteien müssen von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein. Landeslisten – die nur von Parteien eingereicht werden können – benötigen Unterschriften von 1 vom Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl, höchstens jedoch von 2 000 Wahlberechtigten. Neben im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag bereits im genannten Umfang vertretenen Parteien müssen Parteien nationaler Minderheiten keine Unterstützungsunterschriften beibringen.

Durch das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8. Juni 2023 (Wahlrechtsänderungsgesetz 2023) wurde das Zweitstimmendeckungsverfahren in das Bundeswahlgesetz eingeführt. Dabei wurden die Bestimmungen über die Wahlvorschlagsrechte – soweit hier von Belang – dahin geändert, dass nunmehr Parteien Kreiswahlvorschläge nur dann einreichen können, wenn sie auch einen Landeslistenvorschlag einreichen und dieser zugelassen wird.

Die Antragstellerin ist eine politische Partei, die weder in einem Landtag noch im Bundestag, aber im Europaparlament mit einer Abgeordneten vertreten ist. Sie wendet sich mit ihrer im Dezember 2023 erhobenen Organklage dagegen, dass der Deutsche Bundestag das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge zur Bundestagswahl (§ 20 Abs. 2 Satz 3 und § 27 Abs. 1 Satz 2, jeweils in Verbindung mit § 18 Abs. 2 BWahlG) bei der Reform des Bundeswahlgesetzes im Jahr 2023 nicht abgeschafft oder modifiziert hat. Mit ihrem im November 2024 gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt sie, das Unterschriftenquorum für Kreiswahlvorschläge für die Dauer von sechs Monaten auszusetzen und dasjenige für Landeslisten dergestalt zu ändern, dass es für die Dauer von sechs Monaten lediglich bei 0,25 vom Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl liegt, jedoch höchstens bei 500, hilfsweise höchstens bei 1 000 Wahlberechtigten.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Der Antragsgegner hat die Antragstellerin bei seinem Gesetzesbeschluss über das Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 durch das Unterlassen einer Änderung der § 20 Abs. 2 Satz 3 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nicht in ihren Rechten aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Der Deutsche Bundestag war nicht verpflichtet, diese Normen zur Wahrung der Rechte der Antragstellerin zu ändern.

I. Die Organklage ist zulässig. Die Antragstellerin ist als Partei befugt, eine Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG durch das Unterlassen einer Änderung einer wahlrechtlichen Vorschrift geltend zu machen. Die Organklage wahrt auch die sechsmonatige Antragsfrist des § 64 Abs. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG), die mit der Verkündung des Wahlrechtsänderungsgesetztes 2023 in Gang gesetzt wurde.

II. Die Bestimmungen über Unterstützungsunterschriften beschränken das Wahlvorschlagsrecht und damit die Rechte der Antragstellerin aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Beschränkungen ihrer Rechte sind jedoch gerechtfertigt. Auch das Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 hat zu keinem verfassungsrechtlich gebotenen Änderungsbedarf geführt.

1. Unterschriftenerfordernisse schränken das Wahlvorschlagsrecht der Parteien ein, das für die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten wesentliche Bedeutung hat. Dies betrifft die Antragstellerin, die weder im Deutschen Bundestag noch in einem Landtag vertreten ist.

2. Diese Beschränkungen sind gerechtfertigt.

a) Sie dienen dem Ziel, den Charakter der Wahl als einen Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern. Unterschriftenerfordernisse haben wie andere Beschränkungen des Wahlvorschlagsrechts den Zweck, die Anzahl der zugelassenen Wahlvorschläge zu reduzieren. Diese Reduktion sichert den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang. Die Wahl bündelt die parteipolitischen Präferenzen der Wahlberechtigten notwendigerweise in verallgemeinernder Weise. Damit zielen Beschränkungen des Wahlvorschlagsrechts darauf ab, die Stimmen der Wählerinnen und Wähler zu einem Wahlergebnis zu integrieren und stabile Mehrheits- und Regierungsverhältnisse zu ermöglichen. Unterstützungsunterschriften dienen damit letztlich demselben Ziel, das auch Sperrklauseln rechtfertigt. Während Sperrklauseln Parteien am Einzug ins Parlament hindern und damit eine parteipolitische Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen verhindern wollen, wirken Zulassungsbeschränkungen schon der Stimmenzersplitterung bei der Wahl selbst entgegen und reduzieren dadurch das Risiko, dass die auf die einzelnen Wahlvorschläge entfallenden Stimmenzahlen durchgehend niedrig sind. Eine Beschränkung der Wahlvorschläge ermöglicht bei der Wahlkreiswahl wie bei der Verhältniswahl ein größeres Gewicht der erfolgreichen Wahlvorschläge und stärkt damit deren demokratische Legitimation.

b) Zur Erreichung dieses Ziels ist das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften geeignet und erforderlich. Unterstützungsunterschriften rechtfertigen die Annahme, dass ein Wahlvorschlag überhaupt eine Erfolgschance hat. Andere Möglichkeiten sind nicht in gleicher Weise geeignet, den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang zu sichern. Die Anforderungen an die Parteieigenschaft nach dem Parteiengesetz hat der Gesetzgeber so niederschwellig ausgestaltet, dass sich aus ihr allein noch nicht ergibt, dass ein Wahlvorschlag zur Bundestagswahl ernst zu nehmen ist. Der Gesetzgeber ist auch nicht zu einer alternativen Ausgestaltung des Wahlrechts − etwa in Form einer absoluten Mehrheitswahl mit Stichwahl oder einer Verhältniswahl mit Ersatzstimmen − verpflichtet. Art. 38 Abs. 3 GG weist ihm einen weiten Spielraum zu, innerhalb dessen er in seiner Entscheidung für ein Wahlsystem und dessen Modifikationen grundsätzlich frei ist.

c) Die jeweilige Höhe der Unterschriftenquoren wahrt die Parteienfreiheit und ist nicht zu beanstanden. Die Quoren müssen einerseits so hoch sein, dass die Anzahl der Unterschriften den Schluss rechtfertigt, der Vorschlag sei nicht völlig aussichtslos. Andererseits dürfen sie nicht so hoch sein, dass einer neuen Partei die Teilnahme an einer Wahl praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Die Anzahl der erforderlichen Unterschriften ist danach jeweils nicht zu beanstanden. Die Anzahl der für Kreiswahlvorschläge erforderlichen 200 Unterstützungsunterschriften entspricht angesichts einer durchschnittlichen Wahlkreisgröße von 215 000 Wahlberechtigten grob 1 vom Tausend der Wahlberechtigten eines durchschnittlichen Wahlkreises. Das Unterstützungserfordernis für Landeslisten stellt keine substantiell höheren Anforderungen auf. Dies liegt in beiden Fällen deutlich unterhalb der Quoten von rund 0,25 Prozent der Wahlberechtigten, die das Bundesverfassungsgericht bisher als verfassungskonform angesehen hat. Die Realbedingungen einer Wahl führen auch weiterhin zu keiner anderen Bewertung.

d) Die Begrenzung der Unterschriftenerfordernisse auf Parteien, die ihre Wahlbeteiligung nach § 18 Abs. 2 BWahlG anzeigen müssen und keine Parteien nationaler Minderheiten sind, verletzt die Chancengleichheit der Parteien nicht. Es ist verfassungsrechtlich zulässig, dass der Gesetzgeber Parteien nationaler Minderheiten in besonderer Weise fördert. Die parlamentarische Vertretung einer Partei bietet unabhängig vom Unterschriftenerfordernis einen eigenen Anhaltspunkt dafür, dass ein Wahlvorschlag dieser Partei ernst zu nehmen ist. Der Gesetzgeber darf annehmen, dass die politischen Rückwirkungen der parlamentarischen Tätigkeit einer Partei deren Wählerstamm stabilisieren. Zudem hat die Befreiung der parlamentarisch vertretenen Parteien für die dem Unterstützungserfordernis unterliegenden Parteien eine ambivalente Wirkung. Einerseits stellen die notwendigen Bemühungen um Unterstützungsunterschriften und die Möglichkeit, dass ein Wahlvorschlag an unzureichender Unterstützung scheitert, eine Benachteiligung der „kleinen“ Parteien dar. Andererseits erscheint die Gewinnung von Unterstützung gerade dadurch leichter, dass diese lediglich untereinander und mit unabhängigen Bewerbern, nicht jedoch mit den parlamentarisch vertretenen Parteien um die Unterstützung durch Wahlberechtigte, die jeweils nur einen Wahlvorschlag unterstützen dürfen (§ 34 Abs. 4 Nr. 4, § 39 Abs. 3 Satz 5 Bundeswahlordnung), konkurrieren.

Dies rechtfertigt die Befreiung von Parteien, die seit der letzten Wahl aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten im Bundestag vertreten sind ohne weiteres. Auch die Privilegierung einer Partei, die lediglich in einem Landtag in entsprechendem Umfang vertreten ist, ist nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber darf auch der föderalen Struktur der Parteienlandschaft Rechnung tragen und damit Parteien fördern, die aus einer regionalen Stärke in einem Land heraus an der politischen Willensbildung im Bund teilnehmen wollen. Dass sich die Privilegierung nicht ebenso auf Parteien erstreckt, die im Europäischen Parlament vertreten sind, verletzt die Rechte der Antragstellerin nicht. Eine Gleichstellungspflicht des Gesetzgebers kommt mangels Vergleichbarkeit der Sachverhalte nicht schon bei nur einem Mandat im Europäischen Parlament in Betracht.

3. Auch das Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 hat zu keinem verfassungsrechtlich gebotenen Änderungsbedarf geführt.

a) Das Unterschriftenerfordernis für Kreiswahlvorschläge hat weiterhin die Funktion, die Auswahl der Vorschläge zu begrenzen. Zwar steht es dem Gesetzgeber frei, aus der Listenzulassung darauf zu schließen, dass die Kreiswahlvorschläge ebenfalls nicht völlig aussichtslos sind. Für die Beibehaltung des Unterschriftenerfordernisses spricht aber weiterhin seine Funktion. Die Wahlkreiswahl, die als Mehrheitswahl durchgeführt wird, vermittelt auch unter dem 2023 eingeführten Zweitstimmendeckungsverfahren gerade die demokratische Legitimation, die zur vorrangigen Berücksichtigung der erfolgreichen Wahlkreisbewerber bei der Sitzzuteilung führt.

b) Der Gesetzgeber darf auch Landeslisten weiterhin unter den Vorbehalt von Unterstützungsunterschriften stellen. Die Rahmenbedingungen für ihren Zweck haben sich nicht verändert, nachdem das Bundeswahlrecht an den Grundsätzen der Verhältniswahl festhält.

Auch die Höhe des Unterschriftenquorums bedarf keiner Modifikation. Zwar scheidet die Teilnahme von Parteien an der Bundestagswahl lediglich mit Kreiswahlvorschlägen aus. „Kleinen“ und neuen Parteien wird die Teilnahme dadurch aber weder unmöglich gemacht noch unzumutbar erschwert. Schon in der Vergangenheit haben deutlich mehr „kleine“ und neue Parteien mit – häufig nur einzelnen – Landeslisten als solche lediglich mit Wahlkreisvorschlägen an der Bundestagswahl teilgenommen. Vor diesem Hintergrund ist auch unter der nun geltenden Regelung kein erheblicher Rückgang der an Bundestagswahlen teilnehmenden Parteien zu erwarten. Schließlich ist die Verschärfung der Wahlvorschlagsvoraussetzungen „kleiner“ Parteien gegenüber Einzelbewerbern dadurch gerechtfertigt, dass sie gerade als Parteien an Wahlen teilnehmen und ihre Wahlkreisbewerber den Wahlkampf daher nicht lediglich für sich selbst bestreiten.

III. Mit der Ablehnung der Anträge im Organstreitverfahren wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos.

Beschluss vom 10. Dezember 2024 – 2 BvE 15/23

Bundesverfassungsgericht, 18.12.2024

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