Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Varianten 1 und 2 Nr. 2 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) in kombinierter Anwendung mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar sind. Bis zu einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 2025, gelten sie mit der Maßgabe fort, dass hierauf gestützte Maßnahmen nur ergriffen werden dürfen, wenn eine wenigstens konkretisierte Gefahr besteht.

§ 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Varianten 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW ermächtigen Polizeibehörden zur längerfristigen Observation bei gleichzeitigem verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen. Bei einer solchen ab dem 14. Juli 2015 gegen eine Zielperson durchgeführten Maßnahme wurde auch die Klägerin mehrfach unter Anfertigung von Lichtbildern mitbeobachtet. Hiergegen wendet sie sich mit einer Klage vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit Satz 2 sowie § 17 Abs. 1 Satz 1 Variante1 Nr. 2 in Verbindung mit Satz 2 PolG NRW mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar sind.

§ 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Varianten 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW sind in kombinierter Anwendung mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar, weil die Anordnung einer längerfristigen Observation unter gleichzeitiger Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen keine dafür hinreichend hohe und bestimmte Eingriffsschwelle als Anlass der Überwachung voraussetzt. Erforderlich ist entweder eine konkrete oder eine wenigstens konkretisierte Gefahr.

Sachverhalt:

§ 16a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW ermächtigt Polizeibehörden zur Erhebung personenbezogener Daten durch eine durchgehend länger als 24 Stunden oder an mehr als zwei Tagen vorgesehene oder tatsächlich durchgeführte und planmäßig angelegte Beobachtung (längerfristige Observation). Voraussetzung dafür ist nach § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PolG NRW, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wollen, und die Datenerhebung zur vorbeugenden Bekämpfung dieser Straftaten erforderlich ist. Dabei dürfen nach § 16a Abs. 1 Satz 2 PolG NRW auch personenbezogene Daten über andere Personen (unbeteiligte Dritte) erhoben werden, soweit dies erforderlich ist, um eine Datenerhebung nach Satz 1 der Vorschrift durchführen zu können.

§ 17 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW ermächtigt Polizeibehörden zur Erhebung personenbezogener Daten unter anderem durch den verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen (Variante 1) und Bildaufzeichnungen (Variante 2). Die in § 17 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW geregelten Voraussetzungen für die Anordnung des verdeckten Einsatzes technischer Mittel sind deckungsgleich mit denen für die längerfristige Observation.

Im Ausgangsverfahren wendet sich die Klägerin gegen eine sie als unbeteiligte Dritte betreffende Datenerhebung während der Durchführung einer gegenüber einer Zielperson am 10. Juli 2015 angeordneten längerfristigen Observation unter Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen.

Diese Zielperson wurde von der Polizei als sogenannter Gefährder PMK -rechts- (Politisch motivierte Kriminalität -rechts-) geführt. Er war unter anderem wegen Totschlags, gefährlicher Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung verurteilt worden. In Vorbereitung seiner Haftentlassung nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe ordnete die Behördenleitung der Polizei am 10. Juli 2015 an, seinen neuen Aufenthaltsort für die Dauer eines Monats durch eine längerfristige Observation und einen verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen zu ermitteln, um sein Abtauchen und zukünftige schwerwiegende Straftaten der politisch motivierten Gewaltkriminalität zu verhindern. Bei der ab dem 14. Juli 2015 durchgeführten Maßnahme wurde auch die Klägerin mehrfach unter Anfertigung von Lichtbildern mitbeobachtet.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Feststellung, dass die sie betreffende Datenerhebung rechtswidrig ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit Satz 2 sowie § 17 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 Nr. 2 in Verbindung mit Satz 2 PolG NRW mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar sind.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

§ 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Varianten 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW sind in kombinierter Anwendung mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar, weil die Anordnung einer längerfristigen Observation unter gleichzeitiger Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen keine dafür hinreichend hohe und bestimmte Eingriffsschwelle als Anlass der Überwachung voraussetzt.

I. Die Vorlage ist dahin zu begrenzen, dass allein das Zusammenwirken der beiden Befugnisnormen zur verfassungsrechtlichen Überprüfung gestellt wird. Maßgeblich ist zudem allein die gegen die verantwortliche Person gerichtete Regelung, deren etwaige Verfassungswidrigkeit auch die Durchführung der Maßnahme gegenüber der Klägerin als unbeteiligter Dritter erfasst. Die so begrenzte und auf den entscheidungserheblichen Teil der zur Prüfung gestellten Regelungen zu beschränkende Vorlage ist zulässig.

II. Die in der Sache auf den Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen begrenzte Vorlage ist um den Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufzeichnungen zu erweitern. Bei den angefertigten Lichtbildern handelt es sich nach Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht nicht um Bildaufnahmen in Form einer Übertragung von Bildern in Echtzeit, sondern um Bildaufzeichnungen in Form einer Speicherung der erfassten Bilder.

III. § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Varianten 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW sind in kombinierter Anwendung verfassungswidrig.

1. Die präventiv ausgestaltete längerfristige Observation unter gleichzeitigem Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen begründet einen schweren Eingriff in die als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) geschützte informationelle Selbstbestimmung.

Das Eingriffsgewicht der durch §§ 16a, 17 PolG NRW erlaubten Maßnahmen reicht von eher geringeren bis mittleren Eingriffen, wie dem Erstellen einzelner Fotos oder der zeitlich begrenzten schlichten Beobachtung, bis hin zu schweren Eingriffen wie dem langfristig-dauerhaften heimlichen Aufzeichnen von Wort und Bild einer Person. Insbesondere wenn diese Maßnahmen gebündelt durchgeführt werden und dabei unter Nutzung moderner Technik darauf zielen, möglichst alle Äußerungen und Bewegungen zu erfassen und bildlich wie akustisch festzuhalten, können sie tief in die Privatsphäre eindringen und ein besonders schweres Eingriffsgewicht erlangen.

In diesem Spektrum begründet die längerfristige Observation unter gleichzeitigem Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen einen jedenfalls schweren Eingriff. Mindernd wirkt allerdings, dass die Kombination von längerfristiger Observation und Bildaufzeichnung nicht darauf ausgerichtet ist, möglichst alle Äußerungen und Bewegungen zu erfassen und diese bildlich wie akustisch festzuhalten. Dies beruht zum einen darauf, dass Observationen nur im öffentlichen Raum oder in allgemein zugänglichen Räumen (vgl. § 41 Abs. 4 PolG NRW) stattfinden und Beobachtungen etwa in Wohnungen von § 16a PolG NRW nicht umfasst sind. Zum anderen können ohne den begleitenden Einsatz technischer Abhörvorrichtungen von vornherein nur begrenzt Äußerungen Betroffener erfasst und in keinem Fall festgehalten werden. Insbesondere die Gefahr der Erhebung kernbereichsrelevanter Daten ist daher letztlich nicht besonders hoch. Zwar können insoweit – sei es abseits in einem Restaurant, sei es zurückgezogen bei einem Spaziergang – auch höchstvertrauliche Situationen erfasst werden. Allerdings dürfte das Eindringen in die Privatsphäre bei der Beobachtung im öffentlichen Raum jedenfalls nicht typisch sein. Eingriffsmindernd wirkt schließlich, dass jedenfalls die gebündelte Maßnahme – auch schon zum hier maßgeblichen Zeitpunkt im Jahr 2015 – nur befristet für einen Monat (mit Verlängerungsoption) angeordnet werden kann.

2. Gemessen am Gewicht dieses Eingriffs genügen die Befugnisnormen bei kombinierter Anwendung nicht mehr den Anforderungen an ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Sie genügen weder den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit noch dem Bestimmtheitsgebot.

a) § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PolG NRW sind in kombinierter Anwendung zur Erreichung eines legitimen Ziels im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet und erforderlich. Die Befugnisnormen dienen dem legitimen Ziel, die Wirksamkeit der vorbeugenden Straftatenbekämpfung zu steigern. Sie geben den Polizeibehörden insbesondere auch in Kombination Aufklärungsmittel an die Hand, mit denen erhebliche Straftaten im Sinne des § 8 Abs. 3 PolG NRW effektiver vorbeugend bekämpft werden können, denn sie versetzen diese in die Lage, zielsicherer gefahrenabwehrende Folgemaßnahmen zu treffen. Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm – unter Achtung von Würde und Eigenwert des Einzelnen – zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen hochwertigen Verfassungsgütern im gleichen Rang stehen.

b) § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Varianten 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW genügen bei kombinierter Anwendung hinsichtlich der hier erforderlichen Eingriffsschwelle nicht den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.

Die dem Eingriffsgewicht entsprechenden Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne richten sich sowohl an das mit der Datenerhebung zu schützende Rechtsgut als auch an die Eingriffsschwelle, also den Anlass der Überwachung. Ob die zu überprüfende Regelung durchgehend dem Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter dient, ist hier mangels Entscheidungserheblichkeit nicht zu prüfen. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist daher auf die Eingriffsschwelle beschränkt.

Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Datenerhebung durch heimliche Überwachungsmaßnahmen mit hoher Eingriffsintensität im Bereich der Gefahrenabwehr verlangt als Eingriffsschwelle entweder eine konkrete Gefahr oder eine wenigstens konkretisierte Gefahr. Es muss gewährleistet sein, dass eine Gefährdung der durch die Norm geschützten Rechtsgüter im Einzelfall hinreichend konkret absehbar ist und der Adressat der Maßnahmen aus Sicht eines verständigen Dritten den objektiven Umständen nach in sie verfangen ist.

Dem genügen die vorgelegten Regelungen nicht. Die Befugnisnormen setzen auch bei ihrer Kombination lediglich voraus, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass Personen bestimmte Straftaten „begehen wollen“. Dies bleibt hinter den Anforderungen an eine konkretisierte Gefahr und erst recht hinter denen an eine konkrete Gefahr zurück. Die Regelungen schließen nicht aus, dass sich die Prognose allein auf allgemeine Erfahrungssätze stützt. Sie enthalten nicht die Anforderung, dass Tatsachen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen müssen und dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann. Damit geben sie den Behörden und Gerichten keine hinreichend bestimmten Kriterien an die Hand und eröffnen Maßnahmen, die unverhältnismäßig weit sein können.

c) § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 17 Abs. 1 Satz 1 Varianten 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW sind in Kombination im Hinblick auf die tatbestandlich vorausgesetzte Eingriffsschwelle auch zu unbestimmt.

Allein die auf Tatsachen gegründete, nicht näher konkretisierte Möglichkeit, dass jemand irgendwann in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen will, wird dem Bestimmtheitsgebot nicht gerecht. Weder hinsichtlich möglicher Indikatoren und des Grads der Wahrscheinlichkeit eines solchen Ablaufs noch in zeitlicher Hinsicht sieht das Gesetz Beschränkungen vor. Die Bestimmung der Voraussetzungen und Grenzen des Eingriffs obliegt vielmehr der Polizei. Sie entscheidet ohne nähere gesetzliche Vorgaben über die Grenzen der Freiheit des Bürgers und muss sich die Maßstäbe dafür selbst zurechtlegen. Die Schaffung eingriffsbeschränkender Maßstäbe ist aber Aufgabe des Gesetzgebers.

IV. Die Gründe für die Verfassungswidrigkeit dieser hier kombinierten Vorschriften betreffen nicht den Kern der durch sie eingeräumten Befugnisse, sondern einzelne Aspekte ihrer rechtsstaatlichen Ausgestaltung. Der Gesetzgeber kann in diesen Fällen die verfassungsrechtlichen Beanstandungen nachbessern.

Die Unvereinbarkeitserklärung ist mit der Anordnung ihrer vorübergehenden Fortgeltung bis zum Ablauf des 31. Dezember 2025 mit der Maßgabe zu verbinden, dass eine längerfristige Observation verbunden mit dem Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen nur erfolgen darf, wenn – ungeachtet weiterer Eingriffsvoraussetzungen – eine wenigstens konkretisierte Gefahr besteht.

Bundesverfassungsgericht, 03.01.2024

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