Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines türkischen Staatsangehörigen stattgegeben, der sich gegen seine Auslieferung in die Türkei wendet.
Der Beschwerdeführer befindet sich derzeit im Maßregelvollzug. Die türkischen Behörden ermitteln gegen ihn wegen des Verdachts der bandenmäßigen Einfuhr von Betäubungsmitteln in die Türkei und haben ein Ersuchen um Auslieferung zur Strafverfolgung gestellt. Der Beschwerdeführer befürchtet, in der Türkei nicht persönlich im Gerichtssaal an einer gegen ihn geführten Hauptverhandlung teilnehmen zu dürfen. Das Oberlandesgericht hat die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt und einen Antrag auf Aufschub der Auslieferung abgelehnt. Hiergegen wendet er sich mit seiner Verfassungsbeschwerde und einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das Oberlandesgericht hat nicht ausreichend aufgeklärt, ob der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung in einer Weise an der erstinstanzlichen strafrechtlichen Hauptverhandlung beteiligt sein wird, die dem Grundsatz des fairen Verfahrens genügt.
Sachverhalt:
Dem Auslieferungsverfahren liegt ein Haftbefehl des 8. Schwurgerichts von Izmir zugrunde. Darin wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, gemeinsam mit weiteren Personen an der bandenmäßigen Einfuhr von Betäubungsmitteln, circa 9 Kilogramm kokainhaltiger Substanzen, aus den Niederlanden in die Türkei beteiligt gewesen zu sein. Im Februar 2022 ersuchte die Botschaft der Republik Türkei die deutschen Behörden um Auslieferung des Beschwerdeführers.
Im April 2022 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer in anderer Sache zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten. Er befindet sich derzeit im Maßregelvollzug.
Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ordnete das Oberlandesgericht im Dezember 2022 gegen den Beschwerdeführer die förmliche Auslieferungshaft an. Auf Ersuchen des Auswärtigen Amtes um Zusicherung von Haftbedingungen, die den Anforderungen von Art. 3 EMRK entsprächen, erklärte die Botschaft der Republik Türkei unter anderem, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung in der Justizvollzugsanstalt Yalvaç untergebracht werde. Das Oberlandesgericht teilte im März 2023 per Verfügung mit, es sei aus früheren Verfahren bekannt, dass in der Justizvollzugsanstalt Yalvaç inhaftierte Personen in einem laufenden Strafverfahren in der Anstalt verblieben und mittels Videokonferenztechnik zu der gegen sie geführten Hauptverhandlung zugeschaltet würden. Im Mai 2023 wies der Beschwerdeführer darauf hin, wegen der großen Entfernung zwischen der Haftanstalt in Yalvaç und dem Gericht in Izmir sei zu erwarten, dass sich ein Strafgefangener zur Aufgabe seines Anwesenheitsrechts in der Hauptverhandlung gezwungen sehe. Es sei anzunehmen, dass das Gericht über die persönliche Teilnahme des Angeklagten vor Ort in der Hauptverhandlung entscheide, nicht der Angeklagte selbst. Das Oberlandesgericht stellte die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung des Beschwerdeführers im Juni 2023 zurück und gab den türkischen Justizbehörden Gelegenheit, ergänzende Informationen zur Art und Weise der Teilnahme des Beschwerdeführers an der im Falle seiner Auslieferung anstehenden Hauptverhandlung zu übermitteln. Insbesondere sei mitzuteilen, ob angesichts der Entfernung zwischen dem Strafgericht in Izmir und der Justizvollzugsanstalt in Yalvaç davon auszugehen sei, dass das Anwesenheitsrecht des Angeklagten in der Hauptverhandlung durch den Einsatz von Videokonferenztechnik gewahrt werde. Im Juli 2023 teilte die Botschaft der Republik Türkei unter anderem Einzelheiten zum Einsatz von Videokonferenztechnik während der Hauptverhandlung mit.
Mit angegriffenem Beschluss vom 4. September 2023 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig. Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 15. September 2023 lehnte es seinen Antrag auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit und den Aufschub der Auslieferung ab.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das Oberlandesgericht habe die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht ausreichend erfasst, der zufolge Art. 6 EMRK einer teilweisen Substitution der persönlichen Anwesenheit durch Ton-Bild-Übertragung nur in besonders gelagerten Fällen nicht entgegenstehe.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das Oberlandesgericht hat nicht ausreichend aufgeklärt, ob der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung in einer Weise an der erstinstanzlichen strafrechtlichen Hauptverhandlung beteiligt sein wird, die dem Grundsatz des fairen Verfahrens genügt.
Das Oberlandesgericht hätte sich, ausgehend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur herausgehobenen Bedeutung des Rechts eines Angeklagten auf Anwesenheit in der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, bereits im Ausgangspunkt mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob dem Beschwerdeführer nach türkischem Recht grundsätzlich das Recht zukommt, auf seinen Wunsch hin an einer gegen ihn gerichteten erstinstanzlichen Hauptverhandlung persönlich teilzunehmen. Die Pflicht des Oberlandesgerichts zur umfassenden Sachaufklärung bezieht sich jedenfalls dann auch auf das einschlägige (Prozess-)Recht des ersuchenden Staates, wenn der Verfolgte – wie hier – substantiiert darlegt, im Falle seiner Auslieferung einem Strafverfahren ausgesetzt zu sein, in dem seinem Recht auf Anwesenheit nicht genügt werde. Gleichwohl hat das Oberlandesgericht nicht ermittelt, wie das Anwesenheitsrecht im Strafverfahren nach türkischem Recht konkret ausgestaltet ist und unter welchen Bedingungen Einschränkungen zugelassen sind. Die an die türkischen Behörden gerichtete Frage, ob „das Anwesenheitsrecht des Angeklagten in der Hauptverhandlung durch den Einsatz von Videokonferenztechnik gewahrt“ werde, deutet vielmehr eine bereits feststehende Rechtsauffassung des Senats an und nimmt das Ergebnis der ihm obliegenden Prüfung, ob der Grundsatz des fairen Verfahrens durch die beabsichtigte Durchführung der anstehenden Hauptverhandlung allein mittels Videokonferenztechnik überhaupt sichergestellt werden kann, in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vorweg.
Ausgehend von der Feststellung im Beschluss vom 5. Juni 2023, die Teilnahme eines inhaftierten Angeklagten an einer außerhalb der Justizvollzugsanstalt durchgeführten Gerichtsverhandlung per Bild- und Tonübertragung sei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit dem aus Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c EMRK folgenden Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar, sofern bestimmte Bedingungen eingehalten würden, hat das Oberlandesgericht weder die in der einschlägigen Rechtsprechung angelegte Differenzierung zwischen erstinstanzlichen Strafgerichtsverhandlungen und Rechtsmittelverfahren berücksichtigt noch ermittelt, welches „legitime Ziel“ mit der Nutzung der Videokonferenztechnik im konkreten Fall verfolgt wird.
Angesichts der dargestellten Defizite der Sachverhaltsaufklärung und insbesondere der offengelassenen Frage, ob der Beschwerdeführer nach seiner freien Entscheidung an der gegen ihn gerichteten Hauptverhandlung persönlich teilnehmen kann beziehungsweise diesbezüglich eine Wahl hat, genügen die angegriffenen Beschlüsse den Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Dies gilt selbst angesichts des Umstands, dass sich das Oberlandesgericht eingehend mit den technischen Modalitäten des Einsatzes audiovisueller Übertragungstechnik während der anstehenden Hauptverhandlung vor dem Strafgericht in Izmir auseinandergesetzt und insoweit einzelfallbezogene Zusicherungen eingeholt hat.
Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts vom 4. September 2023 wird, soweit er die Zulässigkeit der Auslieferung betrifft, aufgehoben; die Sache wird insoweit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Mit der Aufhebung der Zulässigkeitsentscheidung wird der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 15. September 2023 insoweit gegenstandslos. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Beschluss vom 18. Dezember 2023
2 BvR 1368/23
(c) Bundesverfassungsgericht, 09.01.2024