Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Steuerstraftaten im Zusammenhang mit Aktienkäufen über den Dividendenstichtag (so genannte Cum-Ex-Geschäfte) richtet. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung seines Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) auf die Entscheidung durch den gesetzlichen Richter geltend. Zwei Mitglieder der zuständigen Strafkammer des Landgerichts waren an einem zuvor gegen zwei Börsenhändler wegen Beihilfe zu Steuerstraftaten gefällten Urteil beteiligt gewesen. Die schriftlichen Urteilsgründe des Urteils enthielten auch Ausführungen zur Rolle des – an diesem Verfahren unbeteiligten – Beschwerdeführers als Haupttäter.
Sachverhalt:
Im März 2020 verurteilte das Landgericht Bonn zwei britische Börsenhändler wegen Beihilfe zu mehreren Steuerstraftaten im Zusammenhang mit Cum-Ex-Geschäften zu Gesamtfreiheitsstrafen. In den schriftlichen Urteilsgründen nahm das Landgericht in mehreren Passagen auf den Beschwerdeführer und dessen Stellung in einer Bank, die an der Abwicklung von Cum-Ex-Geschäften beteiligt war, Bezug. Es führte insbesondere aus, der Beschwerdeführer habe gemeinschaftlich mit weiteren Personen vorsätzlich rechtswidrige Steuerstraftaten begangen, zu denen einer der beiden Börsenhändler Hilfe geleistet habe.
Im Mai 2020 klagte die Staatsanwaltschaft den Beschwerdeführer wegen Steuerstraftaten im Zusammenhang mit Cum-Ex-Geschäften zum Landgericht Bonn an. Nach dem Geschäftsverteilungsplan war dieselbe Strafkammer zur Entscheidung über die Anklage berufen, die zuvor das Urteil gegen die Börsenhändler gefällt hatte. Der Kammervorsitzende und der als Berichterstatter vorgesehene Richter hatten an dem Strafurteil gegen die Börsenhändler mitgewirkt.
Nach Eröffnung des Hauptverfahrens und der Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung – aber vor Beginn der Hauptverhandlung – lehnte der Beschwerdeführer den Kammervorsitzenden und den Berichterstatter aufgrund ihrer Mitwirkung am Verfahren gegen die Börsenhändler wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Das Landgericht wies das Ablehnungsgesuch zurück.
Nach Beginn der Hauptverhandlung beantragte der Beschwerdeführer, einen vom Gericht bereits gehörten Zeugen erneut zu vernehmen, da er meinte, dieser habe widersprüchlich zu seiner Aussage im früheren Cum-Ex-Prozess ausgesagt. Der Vorsitzende äußerte sich darauf in einem Rechtsgespräch sinngemäß dahingehend, er habe eine abweichende Erinnerung an die damalige Aussage des Zeugen und bitte den Beschwerdeführer daher um Überlassung des dem Gericht nicht vorliegenden stenografischen Protokolls, um das sauber prüfen zu können. An einem späteren Sitzungstag beantragte der Beschwerdeführer die Aussetzung des Verfahrens. Der Vorsitzende habe sich mit dem Hinweis auf seine Erinnerung zu einem Zeugen gemacht und sei von Gesetzes wegen an der Mitwirkung im weiteren Verfahren ausgeschlossen. Das Landgericht lehnte diesen Antrag ab.
Am 1. Juni 2021 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen fünf Fällen der Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Der Beschwerdeführer griff dieses Urteil mit der Revision an. Er machte unter anderem geltend, die auf die Vorbefassung und den Hinweis des Vorsitzenden gestützten Befangenheitsanträge seien zu Unrecht zurückgewiesen worden, weshalb ein Revisionsgrund vorliege. Mit Beschluss vom 6. April 2022 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen des Landgerichts Bonn und des Bundesgerichtshofs. Er macht eine Verletzung seines Rechts auf die Entscheidung durch den gesetzlichen Richter geltend. Der Vorsitzende und der Berichterstatter seien ihm nicht unvoreingenommen entgegengetreten, weil sie schon an dem Prozess gegen die Börsenhändler mitgewirkt hätten.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Dem Beschwerdeführer wurde der gesetzliche Richter nicht entzogen.
1. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt einen subjektiven Anspruch auf eine Entscheidung durch den gesetzlichen Richter. Eine „Entziehung“ des gesetzlichen Richters durch die fachgerichtliche Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet deshalb die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind oder die Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt wird. Rechtsfehlerhafte – aber nicht willkürliche – Entscheidungen über die Bestimmung des zuständigen Gerichts oder des zuständigen Richters beanstandet das Bundesverfassungsgericht nicht.
Die hier zu beurteilende verfassungsrechtliche Frage betrifft die Auslegung und Anwendung der Befangenheitsregeln und damit die Auslegung und Anwendung von Regeln, die dem durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Ziel, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern, dienen. Das Bundesverfassungsgericht prüft mithin nicht, ob tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit bestanden hat, sondern nur, ob die diesbezüglichen Entscheidungen der Fachgerichte nach den Grundsätzen des Beschwerderechts willkürlich waren oder spezifisches Verfassungsrecht verletzt haben.
2. Gemessen an diesen Maßstäben wurde dem Beschwerdeführer der gesetzliche Richter nicht im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen.
a) Die angegriffenen Entscheidungen entsprechen der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Befangenheit wegen Vorbefassung. Eine Vortätigkeit des erkennenden Richters, die den Verfahrensgegenstand betrifft, zieht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weder automatisch die Ausschließung des Richters von der Ausübung des Richteramts im weiteren Verfahren nach sich, noch begründet sie zwangsläufig die Besorgnis der Befangenheit. Es müssen besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen.
b) Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das deutsche Verfahrensrecht ist von der Auffassung beherrscht, ein Richter könne auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantreten, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet habe. Es bedarf deshalb besonderer Umstände, um aus der Vorbefassung eines Richters auf dessen fehlende Neutralität zu schließen. Nur wenn ein diese Umstände aufgreifendes Befangenheitsgesuch willkürlich zu Unrecht abgelehnt wird, ist dem Angeklagten der gesetzliche Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen.
c) Diese Maßstäbe stehen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verortet die Unparteilichkeit des zur Entscheidung berufenen Richters im Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und sieht sie als dessen unverzichtbaren Bestandteil an. Er prüft die Unparteilichkeit nicht nur anhand subjektiver Kriterien ausgehend von der persönlichen Überzeugung und dem Verhalten eines bestimmten Richters. Er stellt auch auf objektive Kriterien ab und prüft, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür geboten hat, dass alle berechtigten Zweifel insoweit auszuschließen sind.
Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte genügt allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber selbständige Tatvorwürfe entschieden oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen einen Mitangeklagten verhandelt hat, nicht, um Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in einem nachfolgenden Fall zu begründen. Hat allerdings ein Gericht in einem früheren Urteil ohne rechtliche Notwendigkeit die Rolle des später Angeklagten derart detailliert beurteilt, dass das frühere Urteil so zu verstehen ist, das Gericht habe hinsichtlich des später Angeklagten alle für die Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien als erfüllt angesehen, können nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte objektive Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Gerichts bestehen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt ferner an, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Beurteilung der Schuld der abzuurteilenden Personen unerlässlich sein kann, dass das Strafgericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird. Ausdrücklich hat er betont, dass Strafgerichte auch in solchen Konstellationen den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich feststellen müssen und entscheidende Tatsachen – einschließlich solcher mit Bezug auf die Beteiligung Dritter – nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darstellen dürfen.
d) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers verworfen hat. Auch unter Berücksichtigung der Gewährleistungsgehalte des Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK scheidet ein Entzug des gesetzlichen Richters aus.
aa) Die Auffassung der Strafkammer, in dem vorliegenden komplexen Strafverfahren die Beteiligten nicht in einem Verfahren gleichzeitig aburteilen zu können, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Schon die Urteile zeigen auf, dass an Geschäften aus dem Cum-Ex-Komplex eine Vielzahl von Beschäftigten unterschiedlicher Banken in unterschiedlicher Zusammensetzung und in unterschiedlichen Fallkonstellationen beteiligt waren. Ein einziger Prozess, der sich gegen alle diese Personen richtete, hätte insbesondere Beteiligte mit untergeordneten Tatbeiträgen über Gebühr mit einem langen Strafverfahren belastet und wäre mit dem Beschleunigungsgebot nicht zu vereinbaren gewesen.
bb) Die Argumentation, es sei unerlässlich gewesen, die Tatbeiträge des Beschwerdeführers im früheren ersten Cum-Ex-Prozess festzustellen und rechtlich zu würdigen, begegnet ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen oder konventionsrechtlichen Bedenken.
(1) Ausgangspunkt ist, dass die Angeklagten des früheren Verfahrens unter anderem wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung angeklagt und verurteilt wurden. In diesem Verfahren konnte auf Feststellungen zum Vorliegen einer vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat und damit zum Tatbeitrag des Beschwerdeführers nicht verzichtet werden. Vielmehr musste das Tatgericht seiner Pflicht nachkommen, den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der damals Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich festzustellen und entscheidende Tatsachen – auch solche mit Bezug auf die Beteiligung Dritter – nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darzustellen.
(2) Bei der Feststellung, dass einer der früheren Angeklagten dem Beschwerdeführer zu dessen vorsätzlicher und rechtswidriger Steuerhinterziehung Hilfe geleistet hat, hat sich das Landgericht – konventionsrechtliche Anforderungen beachtend – der Aussage enthalten, ob der Beschwerdeführer schuldhaft gehandelt hat. Es hat berücksichtigt, dass schuldhaftes Handeln des (Haupt-)Täters – anders als ein tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Handeln – keine Voraussetzung für eine Strafbarkeit des Gehilfen ist.
(3) Der Hinweis des Beschwerdeführers darauf, wie häufig sein Name in dem vorangegangenen Strafurteil aus dem Cum-Ex-Komplex genannt worden ist, ist bereits angesichts der Länge des betreffenden Urteils nicht aussagekräftig.
(4) Auf die Aufklärung der Rolle des Beschwerdeführers im Cum-Ex-Komplex hätte in dem vorangegangenen Strafverfahren auch nicht deshalb verzichtet werden können, weil außer ihm ein weiterer Tatbeteiligter die entsprechenden Steuererklärungen unterzeichnet und daher ebenfalls eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat begangen hat. Dem steht insbesondere entgegen, dass so jeder Haupttäter die Darstellung seiner Tatbeiträge mit Verweis auf weitere Täter für verzichtbar erklären könnte, so dass das Gericht im Ergebnis überhaupt kein Täterhandeln mehr beschreiben dürfte.
(5) Eine verfassungsrechtlich zu beanstandende Vorbefassung der erkennenden Richter lässt sich ferner nicht daraus ableiten, dass das Landgericht im Urteil gegen die Börsenhändler die vorsätzliche rechtswidrige Haupttat nicht allgemeiner umschrieben und die Person des Haupttäters offengelassen hat. Zwar erkennt der Beschwerdeführer im Ansatz zutreffend, dass die Verurteilung eines Gehilfen grundsätzlich auch dann möglich ist, wenn die Identität des Haupttäters unbekannt bleibt. Bei dem hier zu beurteilenden Verfahren war aber gerade die Identität der Haupttäter, insbesondere deren berufliche Stellung und ihre Kenntnisse im Steuerrecht, maßgeblich für die – im Verfahren gegen die Gehilfen zwingend vorzunehmende – Bewertung der inneren Tatseite der Haupttäter.
cc) Der Rüge, der Hinweis des Vorsitzenden auf seine Erinnerung an die Vernehmung eines Zeugen im früheren Verfahren begründe besondere Umstände, die die Besorgnis der Befangenheit wegen Vorbefassung rechtfertigten, ist ebenfalls der Erfolg zu versagen. Der Beschwerdeführer verkennt den vom Bundesverfassungsgericht anzuwendenden Prüfungsmaßstab, wenn er im Ergebnis eine Neubewertung der für und gegen eine Befangenheit sprechenden Umstände erreichen möchte.
Beschluss vom 27. Januar 2023
2 BvR 1122/22
Quelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung vom 17. Februar 2023