Der 4./11. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 22. September 2022 in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende und des Arbeitsförderungsrechts.
1) 9.30 Uhr – B 11 AL 32/21 R – A. D. ./. Bundesagentur für Arbeit
Vorinstanzen:
Sozialgericht Detmold – S 4 AL 206/16, 04.10.2017
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – L 9 AL 139/19, 31.05.2021
Der Senat hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Die Höhe des Arbeitslosengelds des Klägers ist nach § 151 Abs 4 SGB III zu bemessen. § 151 Abs 4 SGB III greift ein, wenn der Arbeitslose – wie hier – innerhalb der letzten zwei Jahre vor der (erneuten) Entstehung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld bereits Arbeitslosengeld bezogen hat. Es ist unschädlich, dass es sich im Fall des Klägers um einen Fall der Gleichwohlgewährung nach § 157 Abs 3 SGB III gehandelt hat, so dass der Arbeitslosengeldanspruch des Klägers an sich wegen eines Arbeitsentgeltsanspruchs gegen den Arbeitgeber ruhte, aber dennoch zur Auszahlung gelangte; auch in einer solchen Konstellation wird Arbeitslosengeld “bezogen“.
Rechtsfolge des § 151 Abs 4 SGB III ist, dass das Bemessungsentgelt für die Bewilligung des Arbeitslosengelds für den zweiten Zeitraum der Arbeitslosigkeit mindestens das Entgelt ist, nach dem das Arbeitslosengeld zuletzt bemessen worden ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese frühere Bewilligung dem Grunde oder der Höhe nach rechtswidrig gewesen ist. Die Norm stellt nicht auf das Entgelt ab, nach dem das Arbeitslosengeld zuletzt zu bemessen “war“, sondern auf das Entgelt, nach dem es zuletzt bemessen worden “ist“. Nach Auffassung des Senats ist bereits der Wortlaut eindeutig. Diese Auslegung wird auch von Sinn und Zweck der Norm gestützt. Zweck der Norm ist es zum einen, Arbeitslose dadurch zu motivieren, auch geringer entlohnte Beschäftigungen aufzunehmen, so dass für den Fall des Verlustes dieser Beschäftigung eine Leistungskontinuität gewährleistet ist. Zum anderen bewirkt das Anknüpfen an das tatsächlich festgestellte Arbeitsentgelt eine Beschleunigung des Verfahrens, was für die Behörde im Sinne der Verwaltungspraktikabilität die Feststellung der notwendigen Entscheidungsgrundlagen vereinfacht. Dies entspricht dem generellen Ziel der Neuregelung der Bemessungsvorschriften ab dem 1.1.2005. Ob diese Zwecke im jeweiligen Einzelfall erfüllt werden, ist für die Auslegung der Norm unerheblich.
2) 10.30 Uhr – B 11 AL 31/21 R – J. H. ./. Bundesagentur für Arbeit
Vorinstanzen:
Sozialgericht Mannheim – S 7 AL 3736/18, 19.05.2020
Landessozialgericht Baden-Württemberg – L 3 AL 1926/20, 20.01.2021
Der Senat hat das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Es fehlen Feststellungen, welche die Beurteilung erlauben, ob der Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen einer Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung und/oder einer Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe geruht hat. Die Klage auf höheres Arbeitslosengeld wäre jedenfalls für den Ruhenszeitraum unbegründet. Der Senat vermag nach den Feststellungen des LSG auch nicht nachzuvollziehen, ob Altersteilzeitarbeit iS des AltTZG, Teilzeitarbeit, ggf iS des § 150 Abs 2 Satz 1 Nr 5 SGB III, oder die Fortzahlung der Arbeitsvergütung unter Freistellung von der Arbeitstätigkeit vereinbart wurde. Hiernach beurteilen sich die rechtlichen Maßstäbe für das Vorliegen eines wichtigen Grunds für die Arbeitsaufgabe, den Beginn der Beschäftigungslosigkeit im leistungsrechtlichen Sinne und letztlich auch der Bemessung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld.
Ob sich hier der als solcher bezeichnete “Altersteilzeitvertrag“ tatsächlich auf Altersteilzeit nach dem AltTZG bezieht, erscheint zweifelhaft, insbesondere wenn eine sofortige vollständige Freistellung von der Arbeit erfolgt sein sollte. Eine vollständige Freistellung ist zwar bei Altersteilzeit im sog Blockmodell vorgesehen, setzt aber in der Regel einen vorgeschalteten Zeitraum der Beschäftigung mit reduzierten Bezügen ohne Minderung der Arbeitszeit voraus. Nur wenn kein Ruhen wegen Sperrzeiten eingetreten ist sowie Altersteilzeit im Sinne des AltTZG vorgelegen hat, kann § 10 Abs 1 Satz 2 AltTZG anwendbar sein. Erst dann kann sich die Frage der Vereinbarkeit dieser bemessungsrechtlichen Sonderregelung mit Unionsrecht bzw mit Verfassungsrecht, insbesondere mit Art 3 Abs 3 Satz 2 GG, stellen. Das LSG wird insoweit jedenfalls zu berücksichtigen haben, dass der sachliche Anwendungsbereich der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie bei Leistungen der sozialen Sicherheit, wie vorliegend dem Arbeitslosengeld, nicht eröffnet ist.
3) 11.30 Uhr – B 11 AL 34/21 R – C. V. ./. Bundesagentur für Arbeit
Vorinstanzen:
Sozialgericht Freiburg – S 8 AL 2955/18, 26.08.2019
Landessozialgericht Baden-Württemberg – L 8 AL 3398/19, 23.07.2021
Der Senat hat das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Die Klägerin unterfällt der Zuständigkeit des früheren Beschäftigungsstaats Deutschland, weil ein sonstiger vorübergehender Arbeitsausfall iS der VO (EG) 883/2004 und noch keine „Vollarbeitslosigkeit“ vorliegt. Sie wurde gesundheitsbedingt zwar nicht weiter beschäftigt, doch bestand ihr Arbeitsverhältnis fort, was ausreicht.
Mangels ausreichender Feststellungen des LSG zu den Voraussetzungen der pauschalierten Abzüge vom Bemessungsentgelt vermag der Senat indessen nicht abschließend zu entscheiden, ob der Klägerin höheres Arbeitslosengeld zusteht. Das LSG hat keine Ermittlungen dazu angestellt, ob sie als echte Grenzgängerin nach dem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) mit Frankreich von der Besteuerung in Deutschland freigestellt war. Darauf kommt es aber an. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung (Urteil des Senats vom 3.11.2021 – B 11 AL 6/21 R) fest, dass nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck von § 153 SGB III bei einer Freistellung von der Steuerpflicht in Deutschland als Grenzgänger nach einem DBA keine zu berücksichtigende Lohnsteuerklasse als Lohnsteuerabzugsmerkmal bei der Leistungsbemessung zu berücksichtigen ist. Vorschriften des EStG oder der AO stellen dies nicht infrage.
4) 13.30 Uhr – B 4 AS 60/21 R – S. B. ./. Jobcenter Barnim
Vorinstanzen:
Sozialgericht Frankfurt/Oder – S 33 AS 774/16, 24.05.2018
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – L 25 AS 590/20 WA, 06.08.2021
Der Senat hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig; die Aufforderung der Klägerin zur Rentenantragstellung ist insbesondere nicht als unbillig anzusehen. Eine Unbilligkeit ergibt sich nicht aus § 2 UnbilligkeitsV, denn die Rentenantragstellung würde nicht zum Verlust eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld führen. Der Klägerin stand 2016 kein Arbeitslosengeldanspruch zu und der bloße Erwerb einer dementsprechenden Anwartschaft (hier aufgrund der Aufnahme des BFD zum 1.3.2016) unterfällt nicht dem Schutz der Ausnahmevorschrift. Die Klägerin wäre auch nicht in nächster Zukunft berechtigt gewesen, die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch zu nehmen, wie es § 3 UnbilligkeitsV voraussetzt, sondern erst mehr als ein Jahr später.
Für den Ausnahmetatbestand des § 4 Satz 1 UnbilligkeitsV – sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder aus sonstiger Erwerbstätigkeit entsprechend hohes Einkommen – fehlt es schon an der Voraussetzung einer Erwerbstätigkeit. Freiwillige im BFD leisten ihren Dienst ohne Erwerbsabsicht. Dieser ähnelt eher einem Ehrenamt. Zudem setzt § 4 Satz 1 UnbilligkeitsV einen Mindestverdienst voraus, den die Klägerin nicht erzielt hat. Die Vorschrift knüpft an die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV an. Statt durch Altersrente soll dem Nachrang der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch die Berücksichtigung monatlicher Einkünfte, die 450 Euro übersteigen, Rechnung getragen werden. Es liegen schließlich keine außergewöhnlichen Umstände vor, die sich wegen ihres Ausnahmecharakters einer generellen Erfassung als Unbilligkeitstatbestände durch den Verordnungsgeber entziehen. Ein Absehen von der Aufforderung war daher auch im Ermessenswege nicht veranlasst.
Quelle: Bundessozialgericht, Pressemitteilung vom 23. September 2022