Der 12. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 13. Dezember 2022 in Angelegenheiten des Versicherungs- und Beitragsrechts.


1) 10.00 Uhr – B 12 AL 1/21 R – H. C. ./. Bundesagentur für Arbeit
Vorinstanzen:
Sozialgericht Berlin – S 58 AL 303/16, 17.03.2017
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – L 14 AL 73/17, 05.11.2020


Die Revision des Klägers hat Erfolg gehabt. Zu Unrecht hat das LSG auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Beiträge zur Arbeitsförderung nur nach einem Arbeitsentgelt in Höhe von 50 statt 100 vH der monatlichen Bezugsgröße festzusetzen sind. Die Beitragsprivilegierung setzt nicht eine „Existenzgründung“ oder einen vergleichbaren beruflichen Neustart voraus. Sie knüpft allein an die Aufnahme derjenigen selbstständigen Tätigkeit an, die zur Begründung des Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag geführt hat. Das folgt aus der Systematik der die Beitragsprivilegierung regelnden Vorschrift, die auf der Tatbestandsseite lediglich auf ein durch Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit begründetes Versicherungspflichtverhältnis abstellt. Ein solches Versicherungspflichtverhältnis hat die Beklagte durch Verwaltungsakt bindend festgestellt. Eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Beschränkung der Beitragsprivilegierung auf nur existenzgründende selbstständige Tätigkeiten kommt hinreichend deutlich weder im Gesetzeswortlaut noch in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck. Auch § 165 Abs 1 Satz 2 SGB VI führt wegen der gebotenen bereichsspezifischen Auslegung nicht zu einem anderen Ergebnis.


2) 12.10 Uhr – B 12 R 3/21 R – G. GmbH ./. Deutsche Rentenversicherung Bund
beigeladen: 1. E. S.; Bundesagentur für Arbeit
Vorinstanzen:
Sozialgericht Karlsruhe – S 17 BA 654/18, 10.07.2019
Landessozialgericht Baden-Württemberg – L 8 BA 2549/19, 18.12.2020


Der Senat hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Mangels gesellschaftsrechtlicher Rechtsmacht war die Beigeladene zu 1. als Gesellschafterin-Geschäftsführerin der Klägerin in den streitigen Jahren 2013 bis 2016 abhängig beschäftigt. Sie verfügte weder über eine Kapitalbeteiligung von zumindest 50 vH noch eine umfassende, die gesamte Unternehmenstätigkeit erfassende Sperrminorität. Die aus dem Sonderrecht zur Einzelgeschäftsführung resultierende privilegierte Stellung steht einer solchen Sperrminorität nicht gleich. Ungeachtet dessen enthält der Dienstvertrag für eine Beschäftigung typische Regelungen. Dass trotz Beschäftigung Versicherungsfreiheit vorliegt, vermag die Bedeutung einer gesellschaftsrechtlichen Rechtsmacht für die Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit eines Gesellschafter-Geschäftsführers nicht zu modifizieren.

Für die wegen Bezugs der Altersrente und Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze versicherungsfreie Beigeladene zu 1. hat die Klägerin als Arbeitgeberin die Hälfte der Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung zu tragen, die bei Versicherungspflicht zu zahlen wären. Zudem hat sie die Mittel für die Zahlung des Insolvenzgeldes durch eine monatliche Umlage aufzubringen. Damit verfolgte der Gesetzgeber im streitigen Zeitraum den Zweck, Arbeitgebern den Anreiz zu nehmen, Altersrentner wegen ihrer Versicherungs- und Beitragsfreiheit zu beschäftigen, und einer Blockierung freier Arbeitsplätze durch versicherungsfreie Altersrentner entgegenzuwirken. Gegen eine solche arbeitsmarktpolitische Maßnahme bestehen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG jedenfalls für den hier streitigen Zeitraum keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber ist bei der Ausgestaltung sozialversicherungsrechtlicher Systeme von Verfassungs wegen auch nicht gehalten, Geldleistungen der Höhe nach in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen. Ein uneingeschränktes Äquivalenzprinzip existiert im Sozialversicherungsrecht nicht.
Eine spätere Neubewertung der Arbeitsmarktsituation führt zu keiner anderen Beurteilung. Der Gesetzgeber hat auf geänderte Verhältnisse in Folge der demographischen Entwicklung und des Fachkräftemangels reagiert. Für die dem hier streitigen Zeitraum nachfolgende Zeit vom 1.1.2017 bis 31.12.2021 sind Arbeitgeber nicht verpflichtet, für versicherungsfreie beschäftigte Rentner Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu zahlen. Außerdem ist zum 1.1.2017 für Bezieher einer Vollrente wegen Erreichens der Regelaltersgrenze die Möglichkeit geschaffen worden, auf die Versicherungsfreiheit in der Rentenversicherung zu verzichten.


3) 13.20 Uhr – B 12 KR 16/20 R – H. K. ./. Deutsche Rentenversicherung Bund


beigeladen: 1. G. GmbH, BARMER BARMER – Pflegekasse, Bundesagentur für Arbeit
Vorinstanzen:
Sozialgericht Schleswig – S 11 KR 20/14, 22.11.2016
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht – L 5 KR 66/17, 26.08.2020


Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg gehabt. Er ist als Betriebsleiter der beigeladenen GmbH aufgrund Beschäftigung in der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung versicherungspflichtig. Es kann dahinstehen, ob § 5 Abs 4 des Gesellschaftsvertrags hinreichend bestimmt auch das Weisungsrecht umfasst und dem Grundsatz der Klarheit und Vorhersehbarkeit sozialversicherungsrechtlicher Tatbestände genügt. Selbst wenn damit die gesamte Personalhoheit über den Kläger der Gesellschafterversammlung übertragen worden wäre und er damit Weisungen an sich selbst abwenden könnte, schließt allein diese Verhinderungsmacht die abhängige Beschäftigung nicht aus. Auch bei der Statusbeurteilung eines Gesellschafter-Geschäftsführers kommt es nicht allein auf dessen Weisungsfreiheit im eigenen Tätigkeitsbereich an. Vielmehr muss dieser auch in der Lage sein, auf die Ausrichtung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens insgesamt Einfluss zu nehmen und damit die GmbH wie ein Unternehmensinhaber zu lenken. Andernfalls ist er nicht im „eigenen“ Unternehmen tätig, sondern in funktionsgerecht dienender Weise in die GmbH als seine Arbeitgeberin eingegliedert. Dies gilt auch für mitarbeitende, nicht zum Geschäftsführer bestellte Gesellschafter. Der Kläger hat nur ein begrenztes Tätigkeitsfeld (Einkauf und Logistik) und kann aufgrund seiner hälftigen Beteiligung am Stammkapital auch keinen maßgeblichen Einfluss auf die durch seinen Bruder ausgeübte Geschäftsführertätigkeit ausüben. Dass aufgrund familiärer Beziehungen faktisch eine gleichberechtigte Geschäftsführung des Unternehmens gelebt wird, ist für die Statusbeurteilung unerheblich. Auch aus der Übernahme der Bürgschaften und der Darlehensgewährung ergibt sich kein anderes Ergebnis. Die Aufklärungsrüge des Klägers hat schon mangels ausreichender Substantiierung keinen Erfolg gehabt.

4) 14.30 Uhr – B 12 KR 10/20 R – B. S. ./. 1. BKK Scheufelen, BKK Scheufelen – Pflegekasse
Vorinstanzen:
Sozialgericht Reutlingen – S 1 KR 1120/17, 10.07.2019
Landessozialgericht Baden-Württemberg – L 11 KR 2653/19, 16.06.2020


Der Senat hat die Revision des Klägers zurückgewiesen. Als Leistung der betrieblichen Altersversorgung ist die ihm ausgezahlte Direktversicherung beitragspflichtiger Versorgungsbezug, soweit die frühere Arbeitgeberin Versicherungsnehmerin war. Dass die Direktversicherung durch Umwandlung entstanden ist und der Kläger ab 1.1.1995 wieder als selbstständiger Handelsvertreter tätig war, ändert daran nichts. Nach ständiger Rechtsprechung sowohl des BSG als auch des BVerfG ist es zur Einordnung als Leistung der betrieblichen Altersversorgung notwendig, aber auch ausreichend, dass der Durchführungsweg der Direktversicherung gewählt und der institutionelle Rahmen des Betriebsrentenrechts genutzt wird. Diesen hat der Kläger mit der Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit nicht verlassen. Denn dem Tätigkeitswechsel wurde nicht durch eine Änderung des Versicherungsvertrags, insbesondere einer (Rück-)Übertragung der Eigenschaft als Versicherungsnehmer auf den Kläger, Rechnung getragen.
Die Reduzierung des dem Kläger nach dem Ende seiner Tätigkeit als Handelsvertreter zustehenden Ausgleichsanspruchs nach § 89b Abs 1 Satz 1 HGB um die von der früheren Arbeitgeberin erbrachten Altersvorsorgeleistungen wirkt sich weder dem Grunde noch der Höhe nach auf die Beitragspflicht aus. Zwischen Ausgleichsanspruch und Kapitalleistung besteht kein unmittelbarer beitragsrechtlicher Zusammenhang. Wirtschaftlich gesehen kann eine Anspruchskürzung zwar zur Folge haben, dass die Direktversicherung überwiegend oder sogar vollständig vom Betroffenen finanziert wird. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG und des BVerfG ist es aber unerheblich, ob der Versorgungsbezug im Einzelfall ganz oder zum Teil auf Leistungen des Arbeitgebers oder allein auf Leistungen des Arbeitnehmers oder des Bezugsberechtigten beruht, solange der institutionelle Rahmen des Betriebsrentenrechts gewahrt ist.


5) 15.45 Uhr – B 12 KR 13/20 R – T. R. ./. AOK – Die Gesundheitskasse für Niedersachsen
beigeladen: Pflegekasse bei der AOK – Die Gesundheitskasse für Niedersachsen
Vorinstanzen:
Sozialgericht Oldenburg – S 63 KR 14/18, 13.06.2018
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – L 4 KR 346/18, 16.09.2020


Die Revision der Beklagten hat zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG geführt. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die sog obligatorische Anschlussversicherung erst mit Ablauf der Austrittsfrist – dh 14 Tage nach Erhalt eines Hinweisschreibens über die Austrittsmöglichkeit – eintreten könne. Bereits der Wortlaut des § 188 Abs 4 Satz 1 SGB V als auch seine Struktur im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses sprechen für einen lückenlosen Anschluss an die vorangegangene Pflichtversicherung. Die Anschlussversicherung bezweckt den nahtlosen Eintritt der gegenüber der Auffangpflichtversicherung nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V vorrangigen freiwilligen Mitgliedschaft. Bei der vom LSG vertretenen Auslegung würde jedoch regelmäßig eine Versicherungslücke entstehen, die systemwidrig durch die subsidiäre Auffangpflichtversicherung geschlossen werden müsste. Diesem Verständnis stehen schutzwürdige Interessen der Betroffenen nicht entgegen. Auch bei einem verspäteten Hinweis der Krankenkasse entsteht durch die Rückwirkung eines wirksamen Austritts regelmäßig kein Nachteil. Dass bei einem nahtlosen Anschluss die Sondervorschrift des § 256a SGB V über die Ermäßigung nachzuzahlender Beiträge nicht zur Anwendung kommt, ist hinzunehmen. Die Anschlussversicherung vermittelt einen vollwertigen Versicherungsschutz, für den eine entsprechende Beitragspflicht besteht. Dem Senat war allerdings mangels ausreichender Feststellungen des LSG eine abschließende Entscheidung über Eintritt und Dauer der freiwilligen Versicherung sowie über die Höhe der Beiträge verwehrt.


6) 16.30 Uhr – B 12 KR 14/20 R – O. M. ./. Techniker Krankenkasse
Vorinstanzen:
Sozialgericht Hamburg – S 59 KR 2341/16, 19.08.2019,
Landessozialgericht Hamburg – L 1 KR 125/19, 03.09.2020


Die Revision des Klägers hatte wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangels im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG Erfolg. In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass es grundsätzlich ermessensfehlerhaft ist, wenn das LSG durch den Einzelrichter entscheidet und dieser die Revision zum BSG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zulässt. Eine solche Entscheidung ist grundsätzlich dem LSG-Senat in seiner vollen Besetzung einschließlich der ehrenamtlichen Richter vorbehalten. Ein in der Rechtsprechung des BSG anerkannter Ausnahmefall, der die Entscheidung allein durch den Berichterstatter als Einzelrichter rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich.

Quelle: Bundessozialgericht, Pressemitteilung vom 15. Dezember 2022

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