Der 1. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 24. Januar 2023 in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung.
1) 11.15 Uhr
B 1 KR 6/22 R
Städtisches Klinikum K. gGmbH ./. Novitas BKK
Verfahrensgang:
Sozialgericht Karlsruhe, S 5 KR 2440/20, 04.01.2021
Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 11 KR 597/21, 22.03.2022
Die Revision der Krankenkasse hatte keinen Erfolg. Zutreffend hat das Landessozialgericht entschieden, dass das Krankenhaus die durchgeführte Abtragung des Knochensporns am Kieferknochen (partielle Maxillektomie) mit dem Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS)-Kode 5-771.10 verschlüsseln durfte. Die Voraussetzungen dieses Kodes sind erfüllt. Die Kodierung von Prozeduren knüpft nach den Deutschen Kodierrichtlinien (hier Version 2016) an den vom jeweiligen OPS-Kode definierten Eingriff an und nicht an das mit der Behandlung insgesamt verfolgte Ziel. Es ist weder jeder einzelne Handgriff zu kodieren noch werden alle zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlichen Maßnahmen insgesamt in einem OPS-Kode zusammengefasst. Welche Behandlungsschritte Komponenten einer Prozedur sind, bestimmt sich nach den Regeln der ärztlichen Kunst für die Ausführung des jeweiligen, durch einen OPS-Kode konkret definierten Behandlungsverfahrens. Dies ist tatrichterlich zu ermitteln. Nach den bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts wird die partielle Maxillektomie als eigenständige Prozedur durchgeführt, nicht lediglich als Komponente einer anderen Prozedur. Sie ist nach den Regeln der ärztlichen Kunst weder regelhafter Bestandteil der Nasenseptum-Korrektur noch der Operationen an der unteren Nasenmuschel. Der Kodierung standen auch keine speziellen Ausschlussregelungen entgegen.
2) 12.00 Uhr
B 1 KR 7/22 R
S. M. ./. AOK Bayern – Die Gesundheitskasse
Verfahrensgang:
Sozialgericht München, S 7 KR 1723/15, 21.03.2018
Bayerisches Landessozialgericht, L 4 KR 318/18, 25.11.2021
Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Zu Recht hat das Landessozialgericht das stattgebende Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Klägerin steht
der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zu. Die Voraussetzungen für die Versorgung mit dem Arzneimittel Cytotect CP Biotest zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung lagen nicht vor.
Die Klägerin litt zwar an einer behandlungsbedürftigen Krankheit. Dafür genügt auch das hier vorliegende Risiko einer Schädigung des bislang nicht infizierten ungeborenen Kindes durch eine mögliche Übertragung der Infektion im Mutterleib. Der Anspruch auf Krankenbehandlung scheitert aber daran, dass das Arzneimittel Cytotect CP Biotest für die Behandlung einer Infektion mit dem Zytomegalievirus während der Schwangerschaft nicht zugelassen ist und die durch Gesetz und Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen nicht vorlagen. Der für einen Off-Label-Use erforderliche Nachweis der Wirksamkeit ist nicht geführt.
Die Klägerin hatte auch keinen Anspruch auf das Arzneimittel nach § 2 Absatz 1a SGB V. Sie und ihr ungeborenes Kind litten nicht an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder wertungsmäßig hiermit vergleichbaren Erkrankung. Hierzu muss nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen, dass sich mit großer Wahrscheinlichkeit der voraussichtlich tödliche oder hiermit gleichgestellte Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums verwirklichen wird. Dies gilt auch für die Behandlung von Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Lebens. Im Falle einer für das ungeborene Kind gefährlichen Infektion der Schwangeren liegt aber jedenfalls dann keine notstandsähnliche Lage in dem vorbeschriebenen Sinne vor, wenn die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines gesunden Kindes deutlich überwiegt. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des § 2 Absatz 1a SGB V. Die Schutzwirkungen der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip führen nicht zu einer erweiternden Auslegung.
Nach den nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts bestand keine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind der Klägerin durch die Infektion sterben oder eine wertungsmäßig vergleichbare dauerhafte Schädigung erleiden würde.
Quelle: Bundessozialgericht, Pressemitteilung vom 25. Januar 2023