Der 1. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 18. August 2022 in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung.


1) 10.00 Uhr – B 1 KR 29/21 R – C. K. ./. Techniker Krankenkasse
Vorinstanzen:
Sozialgericht Duisburg – S 17 KR 1152/17 WA, 13.11.2017
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – L 11 KR 830/17, 27.11.2019


Die Revision der Klägerin hatte im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg. Der Senat konnte auf Grundlage der Feststellungen des LSG nicht entscheiden, ob die Klägerin Anspruch auf Erstattung der Kosten für die von ihr selbst beschafften stationären Liposuktionsbehandlungen hat. Es fehlt sowohl an ausreichenden Feststellungen zum Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs der Klägerin auf Versorgung mit Potentialleistungen als auch zur Wirksamkeit der Zahlungsverpflichtung, für die die Klägerin Kostenerstattung begehrt.
Der Senat hat am 26.4.2022 (B 1 KR 20/21 R) bereits entschieden, dass Versicherte auch nach Erlass einer Erprobungsrichtlinie Anspruch auf die Versorgung mit Potentialleistungen grundsätzlich nur im Rahmen eines individuellen Heilversuchs haben, wenn es 1. um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Standardbehandlung verfügbar ist und wenn 3. die einschlägigen Regelungen der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) für die Annahme des Potentials einer erforderlichen Behandlungsalternative erfüllt sind. Für nicht an der Erprobung teilnehmende Krankenhäuser kann der GBA nach § 137e Abs 2 Satz 3 SGB V ergänzende Anforderungen an die Qualität der Leistungserbringung regeln. Es handelt sich für diese Krankenhäuser um eine abschließende Regelungsermächtigung. Der GBA hat von ihr im Falle des Liposuktions-Erprobungsverfahrens im Zeitpunkt des hier maßgebenden Leistungsgeschehens keinen Gebrauch gemacht. Begrenzungen ergeben sich auch aus einer Erprobungsrichtlinie iVm § 137e Abs 2 Satz 1 und 2 SGB V und dem Studiendesign selbst. Sie gelten aber nur für an der Erprobung teilnehmende Krankenhäuser.
Das LSG hat seine Entscheidung noch an der vom Senat im März 2021 aufgegebenen Rechtsprechung zu § 137c Abs 3 SGB V ausgerichtet und deswegen zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Potentialleistungen keine Feststellungen getroffen. Auch fehlen bislang ausreichende Feststellungen zu den Einzelheiten der geschlossenen Verträge und der erteilten Rechnungen.


2) 10.40 Uhr – B 1 KR 38/21 R – A. B. ./. BIG direkt gesund
Vorinstanzen:
Sozialgericht Karlsruhe – S 9 KR 2365/17, 17.01.2019
Landessozialgericht Baden-Württemberg – L 4 KR 640/19, 26.03.2021


Die Revision der Klägerin hatte im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg. Der Senat konnte auf Grundlage der Feststellungen des LSG nicht entscheiden, ob die Klägerin Anspruch auf Erstattung der Kosten für die von ihr selbst beschafften stationären Liposuktionsbehandlungen hat.
Der Senat hat am 26.4.2022 (B 1 KR 20/21 R) bereits entschieden, dass Versicherte auch nach Erlass einer Erprobungsrichtlinie Anspruch auf die Versorgung mit Potentialleistungen grundsätzlich nur im Rahmen eines individuellen Heilversuchs haben, wenn es 1. um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Standardbehandlung verfügbar ist und wenn 3. die einschlägigen Regelungen der Verfahrensordnung des GBA für die Annahme des Potentials einer erforderlichen Behandlungsalternative erfüllt sind. Für nicht an der Erprobung teilnehmende Krankenhäuser kann der GBA nach § 137e Abs 2 Satz 3 SGB V ergänzende Anforderungen an die Qualität der Leistungserbringung regeln. Es handelt sich für diese Krankenhäuser um eine abschließende Regelungsermächtigung. Der GBA hat von ihr im Falle des Liposuktions-Erprobungsverfahrens im Zeitpunkt des hier maßgebenden Leistungsgeschehens keinen Gebrauch gemacht. Begrenzungen ergeben sich auch aus einer Erprobungsrichtlinie iVm § 137e Abs 2 Satz 1 und 2 SGB V und dem Studiendesign selbst. Sie gelten aber nur für an der Erprobung teilnehmende Krankenhäuser.
Das LSG hat seine Entscheidung noch an der vom Senat im März 2021 aufgegebenen Rechtsprechung zu § 137c Abs 3 SGB V ausgerichtet und deswegen zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Potentialleistungen keine Feststellungen getroffen. Diese sind nachzuholen.


3) 11.10 Uhr – B 1 KR 30/21 R – Techniker Krankenkasse ./. W. GmbH
Vorinstanzen:
Sozialgericht Speyer – S 17 KR 689/16, 05.12.2019
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz – L 5 KR 22/20, 01.07.2021


Die Revision der klagenden Krankenkasse (KK) hatte keinen Erfolg. Die Entscheidung des LSG, dass der KK kein weiterer Anspruch auf Rückzahlung von Umsatzsteueranteilen auf Zytostatikaabgaben zusteht, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Grundlage der Leistungspflichten der Beteiligten sind die zwischen dem Krankenhaus und der KK zustande gekommenen Arzneimittelpreisvereinbarungen (AMPV). Die den KKn und Krankenhäusern nach § 129a SGB V zustehende Vertragsfreiheit lässt es noch zu, den Vertragsschluss durch einen Optionsvertrag vorbereiten zu lassen, an dem ein Dritter beteiligt ist (hier ein Berufsverband von Krankenhausapothekern). Mit den Optionsverträgen haben die KKn gegenüber den Krankenhäusern ein Vertragsangebot abgegeben, aber erst die untechnisch als „Beitritt“ bezeichneten Erklärungen der Krankenhausträger zu den Vereinbarungen begründeten jeweils ein vertragliches Leistungserbringerverhältnis mit den KKn nach Maßgabe der vom Apothekerverband zuvor verhandelten Bedingungen (AMPV 2004 und AMPV 2010).
Der Anspruch der KK auf Rückzahlung der vom Krankenhaus vereinnahmten und nicht an das Finanzamt abgeführten Umsatzsteuer folgt aus einer vertraglichen Verpflichtung nach ergänzender Vertragsauslegung der AMPV 2010. Der Anspruch besteht jedoch nicht über den von den Vorinstanzen zuerkannten Betrag hinaus. Der Senat kann die AMPV 2004 und 2010 als Revisionsgericht nicht selbst auslegen. Vertragliche Vereinbarungen sind revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar. Das Revisionsgericht hat hier nur zu prüfen, ob die Vorinstanz bei der Auslegung Bundesrecht verletzt hat, insbesondere die gesetzlichen Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB nicht beachtet oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat. Eine Ausnahme bilden zwar sog „typische“ Verträge, die in einer Vielzahl von Fällen geschlossen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn sich deren Anwendungsbereich über den Bezirk eines Berufungsgerichts hinaus erstreckt, was hier nicht der Fall ist. Seine entgegenstehende frühere Rechtsprechung hat der Senat nach informeller Abstimmung mit dem 3. Senat aufgegeben. Nach der ergänzenden Auslegung der AMPV 2010 durch das LSG für die Zeit vom 1.8.2010 bis 31.12.2016 steht der KK ein vertraglicher Anspruch auf Rückzahlung der materiell-rechtlich nicht geschuldeten Umsatzsteuer unter Gegenrechnung der Vorsteueraufwendungen zu. Die Höhe der von der KK zu tragenden Vorsteueraufwendungen wird durch die vereinbarten (Netto-)Verkaufspreise für Arzneimittel und Applikationshilfen bestimmt und nicht durch die im Einzelfall tatsächlich angefallenen Beschaffungskosten. Diese vom LSG nachvollziehbar begründete ergänzende Vertragsauslegung verletzt die genannten bundesrechtlichen Auslegungsgrundsätze nicht, wenngleich ein anderes Auslegungsergebnis ebenfalls vertretbar wäre. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Auslegung der AMPV 2004 durch das LSG für die Zeit vom 1.1. bis 31.7.2010, bei der das LSG ohne ergänzende Vertragsauslegung einen Rückzahlungsanspruch von vornherein verneinte.
Es besteht kein weitergehender Schadensersatzanspruch der KK gegen das Krankenhaus. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der KK aus der Verletzung einer etwaigen Nebenpflicht kein Schaden entstanden, der höher ist, als der durch die ergänzende Vertragsauslegung begründete Rückzahlungsanspruch.


4) 12.10 Uhr – B 1 KR 13/21 R – AOK Rheinland-Pfalz/Saarland – Die Gesundheitskasse ./. W. GmbH
Vorinstanzen:
Sozialgericht Speyer – S 20 KR 492/17, 23.04.2018
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz – L 5 KR 161/18, 18.02.2021


Die Revision der klagenden Krankenkasse hatte keinen Erfolg. Das LSG hat auch hier in rechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass ihr kein weiterer Anspruch auf Rückzahlung von Umsatzsteueranteilen auf Zytostatikaabgaben zusteht. Insoweit gelten – auch hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs – dieselben Erwägungen wie im Fall 3 zur dortigen AMPV 2010.


5) 12.50 Uhr – B 1 KR 24/21 R – J. S. ./. Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See
Vorinstanzen:
Sozialgericht Hamburg – S 48 KR 2750/16, 22.03.2018
Landessozialgericht Hamburg – L 1 KR 46/18, 25.02.2021


Die Revision des Klägers hatte keinen Erfolg. Das LSG hat seine Berufung gegen das klagabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Ein Anspruch des Arbeitgebers auf Aufwendungsersatz nach § 1 Abs 1 Nr 1 AAG besteht auch dann erst nach Ablauf der vierwöchigen Wartefrist, wenn der Anspruch des Arbeitsnehmers auf Entgeltfortzahlung tarifvertraglich eine solche – anders als das EFZG – nicht voraussetzt. § 1 Abs 1 Nr 1 AAG nimmt zwar auf die vierwöchige Wartezeit in § 3 Abs 3 EFZG nicht ausdrücklich Bezug, sieht aber ebenso wenig vor, dass fortgezahltes Arbeitsentgelt dem Arbeitgeber unabhängig von den Voraussetzungen des EFZG zu erstatten ist. Ausschlaggebend für eine Beschränkung des Erstattungsanspruchs auf den gesetzlichen Entgeltfortzahlungsanspruch sind die Regelungssystematik, der Sinn und Zweck der maßgebenden Vorschriften sowie ihre Auslegung im Lichte von Art 3 Abs 1 GG. Die Tarifautonomie des Klägers nach Art 9 Abs 3 GG wird nicht berührt. Die durch das EFZG eingeräumten tarifvertraglichen Abweichungsmöglichkeiten begründen keinen weitergehenden Erstattungsanspruch zu Lasten der nach dem AAG in einer Solidargemeinschaft zwangsweise zusammengeschlossenen Kleinunternehmen.

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