Der Senat für Anwaltssachen hat über die Wahlanfechtungsklage eines Rechtsanwalts entschieden, der nach der Niederlegung seines Amtes als Vorstandsmitglied der beklagten Rechtsanwaltskammer weder zur Nachwahl für den infolge seiner Amtsniederlegung nachzubesetzenden Sitz noch für die in einem einheitlichen Wahlgang mit der Nachwahl durchgeführte turnusmäßige Neuwahl der Hälfte der Vorstandsmitglieder als Kandidat zugelassen worden war. Der Senat hat die Wahl hinsichtlich der turnusmäßigen Neuwahl für den Wahlbezirk des Klägers für ungültig erklärt und festgestellt, dass die Verbindung der Nach- und der Neuwahl in einem einheitlichen Wahlgang rechtswidrig war. Den weitergehenden Antrag auf Ungültigerklärung auch der Nachwahl hat er abgewiesen.
Sachverhalt:
Der Kläger war im Jahr 2018 in den Vorstand der beklagten Rechtsanwaltskammer gewählt worden, hatte sein Amt aber im Juni 2019 wegen Meinungsverschiedenheiten mit anderen Vorstandsmitgliedern niedergelegt. Die Nachwahl für den infolge seiner Amtsniederlegung freigewordenen Sitz wurde vom 24. April bis 10. Mai 2020 in einem einheitlichen Wahlgang mit der turnusmäßigen Neuwahl 2020 der Hälfte der Vorstandsmitglieder durchgeführt. Dabei sollten nach der Bekanntmachung des Wahlausschusses im Wahlbezirk des Klägers die elf Kandidaten, die die meisten Stimmen auf sich vereinigten, für die in diesem Bezirk neu zu besetzenden elf Sitze gewählt sein und der Kandidat auf Rang zwölf der Stimmenanzahl für den infolge der Amtsniederlegung des Klägers nachzubesetzenden Sitz. Der Kläger war zunächst als Kandidat für die Wahl zugelassen, seine Zulassung aber anschließend mit der Begründung wieder zurückgenommen worden, dass er infolge seiner Amtsniederlegung nach § 69 Abs. 3 BRAO für den Rest der Amtszeit des niedergelegten Amtes bis zum Jahr 2022 bei Wahlen zum Kammervorstand nicht wählbar sei.
Der Kläger und ein weiterer Beteiligter haben beantragt, die Wahlen zum Kammervorstand vom 24. April bis 10. Mai 2020 für den Wahlbezirk des Klägers für ungültig zu erklären. Sie haben geltend gemacht, dass der Ausschluss des Klägers als Kandidat von der Nach- und der Neuwahl ebenso wie die Verbindung der beiden Wahlen in einem einheitlichen Wahlgang rechtswidrig gewesen sei.
Bisheriger Prozessverlauf:
Der Anwaltsgerichtshof hat der Wahlanfechtungsklage mit der Begründung stattgegeben, dass es für den Ausschluss des Klägers als Kandidat von der Nach- und der Neuwahl an einer Rechtsgrundlage fehle.
Dagegen haben die beklagte Rechtsanwaltskammer und ein weiterer Beteiligter Berufung eingelegt. Im Laufe des Berufungsverfahrens ist der Kläger bei der turnusmäßigen Neuwahl 2022 in den Vorstand der Beklagten gewählt worden und die Amtszeit für das von ihm niedergelegte Amt abgelaufen. Im Hinblick darauf haben die Berufungsführer geltend gemacht, das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der Durchführung des Verfahrens sei entfallen und die Klage unzulässig geworden.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass der Ausschluss des Klägers als Kandidat von der Nachwahl für den von ihm niedergelegten Sitz gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO rechtmäßig war, nicht aber sein Ausschluss als Kandidat von der turnusmäßigen Neuwahl. Außerdem hat er festgestellt, dass die Verbindung der Nach- mit der Neuwahl in einem einheitlichen Wahlgang rechtswidrig war.
Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis des Klägers für die Durchführung des Wahlanfechtungsverfahrens nach § 112f Abs. 1 Nr. 2 BRAO ist durch seine zwischenzeitliche Wahl in den Vorstand der Beklagten bei der turnusmäßigen Neuwahl 2022 nicht entfallen. Das Wahlanfechtungsverfahren dient der objektiv-rechtlichen Überprüfung einer Wahl, so dass es für seine Durchführung keiner subjektiven Rechtsverletzung des Klägers bedarf. Das berechtigte Interesse an der objektiv-rechtlichen Überprüfung einer Wahl besteht trotz nachträglicher Wahl des (möglicherweise) benachteiligten Kandidaten in das betreffende Organ jedenfalls dann fort, wenn die angefochtene Wahl – wie hier die turnusmäßige Neuwahl 2020 – weiterhin Auswirkungen auf die aktuelle Zusammensetzung des Organs hat. Hinsichtlich der Nachwahl für das vom Kläger niedergelegte Amt hat sich sein hauptsächliches Begehren, die Wahl für ungültig zu erklären, zwar mit dem Ablauf der Amtszeit im Jahr 2022 erledigt. Auch insoweit besteht aber ein Rechtsschutzinteresse des Klägers an der Fortführung des Verfahrens mit der von ihm hilfsweise beantragten Feststellung, dass die Nachwahl wegen der von ihm behaupteten Wahlfehler rechtswidrig war, da die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die in diesem Zusammenhang zu klärenden Rechtsfragen künftig zwischen den Verfahrensbeteiligten erneut in gleicher Weise stellen.
In der Sache ist der Ausschluss des Klägers als Kandidat für die Nachwahl für den gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO nachzubesetzenden Sitz zu Recht erfolgt. Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO, nach dem eine Ersetzung des Ausgeschiedenen durch ein neues Mitglied, d.h. durch eine an seine Stelle tretende andere Person zu erfolgen hat. Die Vorschrift enthält damit speziell für den Fall der Nachwahl eine ausdrückliche gesetzliche, die allgemeinen Ausschlussregeln der §§ 65, 66 BRAO für diesen Fall ergänzende Regelung, gegen die auch keine durchgreifenden verfassungsmäßigen Bedenken bestehen. Der Ausschluss des Klägers von der turnusmäßigen Neuwahl war dagegen mangels gesetzlicher Grundlage rechtswidrig. § 69 Abs. 3 Satz 1 BRAO ist insoweit weder unmittelbar noch analog anwendbar. Diese Vorschrift bezieht sich nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn und Zweck allein auf die Nachwahl für den infolge der Amstniederlegung nachzubesetzenden Sitz. Sie bietet dagegen keine Grundlage dafür, den durch Amtsniederlegung aus dem Vorstand ausgeschiedenen für die Dauer der restlichen Amtszeit des von ihm niedergelegten Amtes auch als Kandidat bei einer in diesem Zeitraum durchgeführten turnusmäßigen Neuwahl auszuschließen. Schließlich war auch die Verbindung von Nach- und Neuwahl in einem einheitlichen Wahlgang rechtswidrig. Insoweit ist § 68 Abs. 4 BRAO entsprechend anwendbar, der für den Fall der gleichzeitigen Ergänzungs- und turnusmäßigen Neuwahl getrennte Wahlgänge vorschreibt. Für den Fall der gleichzeitigen Nach- und turnusmäßigen Neuwahl liegt eine planwidrige Regelungslücke des Gesetzes vor und die Interessenlage beider Konstellationen ist vergleichbar.
Vorinstanz:
AGH München – Urteil vom 22. Juli 2021 – BayAGH III – 4 – 9/20
Quelle: Bundesgerichtshof, Pressemitteilung vom 19. Oktober 2022