Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Schiedsvereinbarungen zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in drei Verfahren entschieden, dass Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) vorgelagerten nationalen Rechtsschutz gegen Schiedsverfahren in Anspruch nehmen können, die Investoren aus anderen Mitgliedstaaten auf Grundlage des Energiecharta-Vertrags vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes, ICSID) nach dem ICSID-Übereinkommen vom 18. März 1965 eingeleitet haben.
Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf im Verfahren I ZB 43/22:
Die Antragstellerin ist ein EU-Mitgliedstaat, der seine Gesetzgebung im Bereich der Wind- und Solarenergie geändert hat. Hierdurch sehen die Antragsgegnerinnen, die zu einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Konzern gehören, ihre entsprechenden Investitionen in dem EU-Mitgliedstaat in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrags geschädigt. Sie leiteten daher ein Investor-Staat-Schiedsverfahren bei dem ICSID auf Grundlage der in Art. 26 des Energiecharta-Vertrags enthaltenen Schiedsklausel ein. Die Antragstellerin wandte sich daraufhin mit einem Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit dieses schiedsrichterlichen Verfahrens an das Kammergericht.
Das Kammergericht hat den Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO als unzulässig zurückgewiesen. Die Norm finde in Schiedsverfahren nach dem ICSID-Übereinkommen, bei dem es sich um ein geschlossenes Rechtssystem handele, keine Anwendung.
Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf in den Parallel-Verfahren I ZB 74/22 und I ZB 75/22:
Der Antragsteller ist in beiden Verfahren derselbe EU-Mitgliedstaat. Er hat beschlossen, bis zum Jahr 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen. Hierdurch sehen die Antragsgegnerin im Verfahren I ZB 74/22 und die Antragsgegnerin im Verfahren I ZB 75/22, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, jeweils ihre Investitionen in ein in dem EU-Mitgliedstaat belegenes Kohlekraftwerk in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrags (Verfahren I ZB 74/22) bzw. in Höhe eines einstelligen Milliardenbetrags (Verfahren I ZB 75/22) geschädigt. Sie leiteten daher jeweils ein Investor-Staat-Schiedsverfahren bei dem ICSID auf Grundlage der in Art. 26 des Energiecharta-Vertrags enthaltenen Schiedsklausel ein. Der Antragsteller wandte sich daraufhin jeweils mit einem Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit dieses schiedsrichterlichen Verfahrens (Antrag zu 1) sowie jeglichen schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen den jeweiligen Beteiligten auf der Grundlage der Schiedsklausel im Energiecharta-Vertrag (Antrag zu 2) an das Oberlandesgericht Köln.
Das Oberlandesgericht hat den Anträgen stattgegeben. Insbesondere seien sie entgegen der Rechtsauffassung des Kammergerichts unter Berücksichtigung des vorrangigen Unionsrechts statthaft. Die Anträge seien auch begründet, weil die Schiedsklausel in Intra-EU-Investitionsstreitigkeiten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union insbesondere in den Rechtssachen Achmea (C-284/16) und Komstroy (C-741/19) gemäß Art. 267 und 344 AEUV unwirksam sei.
Im Verfahren I ZB 74/22 hat die Antragsgegnerin ihre Rechtsbeschwerde nach teilweiser Rücknahme auf die Zurückweisung des Antrags zu 2 beschränkt.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der Bundesgerichtshof hat im Verfahren I ZB 43/22 die Entscheidung des Kammergerichts aufgehoben und die Unzulässigkeit des von den Antragsgegnerinnen eingeleiteten ICSID-Schiedsverfahrens festgestellt. Im Verfahren I ZB 75/22 hat der Bundesgerichtshof die Feststellung der Unzulässigkeit des von der Antragsgegnerin eingeleiteten ICSID-Schiedsverfahrens (Antrag zu 1) bestätigt. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts hinsichtlich des Antrags zu 2 hat der Bundesgerichtshof in den Verfahren I ZB 74/22 und I ZB 75/22 dagegen aufgehoben und diesen Antrag jeweils als unzulässig verworfen.
Die Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die deutschen Gerichte sind bei Schiedsverfahren, die – wie die vorliegenden drei Verfahren nach dem ICSID-Übereinkommen – keinen Schiedsort haben, für einen Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO in entsprechender Anwendung von § 1025 Abs. 2 ZPO international zuständig.
Ein Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO auf Feststellung der Unzulässigkeit des Schiedsverfahrens ist zwar jedenfalls ab Registrierung eines ICSID-Schiedsverfahrens wegen der vorrangigen Kompetenz-Kompetenz des Schiedsgerichts gemäß Art. 41 Abs. 1 ICSID-Übereinkommen zur Entscheidung über seine Zuständigkeit grundsätzlich nicht statthaft.
Diese Sperrwirkung des ICSID-Schiedsverfahrens betreffend ein Verfahren vor den staatlichen Gerichten steht der Statthaftigkeit eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO aber ausnahmsweise in der hier vorliegenden besonderen Konstellation eines Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahrens nach dem ICSID-Übereinkommen wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts – auch gegenüber dem Völkerrecht – unter Berücksichtigung des Effektivitätsgrundsatzes nicht entgegen.
Im Intra-EU-Kontext ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aus unionsrechtlichen Gründen und entgegen der Regelungssystematik des ICSID-Übereinkommens eine nachgelagerte staatsgerichtliche Kontrolle eines ICSID-Schiedsspruchs zwingend erforderlich. Diese Kontrolle kann im Intra-EU-Kontext durch die vom deutschen Gesetzgeber mit § 1032 Abs. 2 ZPO ermöglichte vorgezogene staatsgerichtliche Kontrolle bindend vorweggenommen werden. Eine Feststellung der Unzulässigkeit des Schiedsverfahrens nach § 1032 Abs. 2 ZPO verhindert aufgrund der Bindungswirkung dieser Entscheidung die (spätere) Vollstreckbarerklärung eines ICSID-Schiedsspruchs in Deutschland.
Der Antrag (zu 1) nach § 1032 Abs. 2 ZPO ist auch begründet. Die jeweiligen Schiedsverfahren sind mangels wirksamer Schiedsvereinbarung unzulässig. Dem Abschluss einer wirksamen Schiedsvereinbarung steht entgegen, dass die Schiedsklausel in Art. 26 Abs. 2 Buchst. c, Abs. 3 und 4 des Energiecharta-Vertrags nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union für Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahren gegen Unionsrecht verstößt. Wegen der Unvereinbarkeit insbesondere mit Art. 267, 344 AEUV fehlt es an einer wirksamen Einwilligung und damit an einem Angebot der antragstellenden EU-Mitgliedsstaaten zum Abschluss einer Schiedsvereinbarung.
Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst. Aus den Entscheidungen des Gerichtshofs ergibt sich eindeutig, dass seine Rechtsprechung zur Unvereinbarkeit der in Investitionsschutzabkommen zwischen Mitgliedstaaten eröffneten Möglichkeit zur Anrufung eines Schiedsgerichts mit dem Unionsrecht auch auf Schiedsverfahren nach dem ICSID-Übereinkommen anwendbar ist. Mit seinen Entscheidungen zur Unwirksamkeit von Schiedsvereinbarungen in bi- und multilateralen Investitionsschutzabkommen hat der Gerichtshof auch nicht ultra vires gehandelt.
Der in den Verfahren vor dem Oberlandesgericht Köln gestellte Antrag zu 2 auf Feststellung der Unzulässigkeit jeglichen schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen den Parteien auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 des Energiecharta-Vertrags ist unzulässig. Soweit der Antragsteller vorbeugend geklärt wissen möchte, dass die Antragsgegnerin durch eine mögliche zukünftige Annahme seines „stehenden Angebots“ gemäß Art. 26 Abs. 3 des Energiecharta-Vertrags keine wirksame Schiedsvereinbarung herbeiführen kann, betrifft diese Fragestellung keine konkrete Schiedsvereinbarung mit einem potenziell daraus erwachsenden Schiedsverfahren, sondern lediglich eine potenzielle Schiedsvereinbarung und ist mithin nicht von der Prüfung eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO umfasst.
Beschlüsse vom 27. Juli 2023 – I ZB 43/22, I ZB 74/22 und I ZB 75/22
Vorinstanz im Verfahren I ZB 43/22
KG Berlin – Beschluss vom 28. April 2022 – 12 SchH 6/21
und
Vorinstanz im Verfahren I ZB 74/22
OLG Köln – Beschluss vom 1. September 2022 – 19 SchH 14/21
und
Vorinstanz im Verfahren I ZB 75/22
OLG Köln – Beschluss vom 1. September 2022 – 19 SchH 15/21