Der unter anderem für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage zur Auslegung des Begriffs des „gewöhnlichen Aufenthalts“ iSv Art. 8 lit. a und b Rom III-VO vorgelegt.
Sachverhalt:
Die Beteiligten sind deutsche Staatsangehörige und schlossen im Jahr 1989 die Ehe. Sie lebten zunächst in einer Wohnung in Berlin, die sie im Jahr 2006 angemietet hatten. Im Juni 2017 zogen sie mit nahezu ihrem gesamten Hausstand nach Schweden, wo der Ehemann an der Deutschen Botschaft Stockholm beschäftigt war. Ihren inländischen Wohnsitz meldeten die Beteiligten im Juni 2017 ab. Ihre Mietwohnung in Berlin behielten sie aber bei, um nach der Auslandstätigkeit des Ehemanns wieder dorthin zurückkehren zu können. Als der Ehemann an die Deutsche Botschaft Moskau versetzt wurde, zogen die Beteiligten im September 2019 mit ihrem Hausstand von Stockholm nach Moskau in eine Wohnung auf dem Compound der Botschaft. Die Beteiligten besitzen beide einen Diplomatenpass.
Im Januar 2020 reiste die Ehefrau nach Berlin, um sich dort einer Operation zu unterziehen. Im Februar 2021 kehrte sie nach Moskau zurück und wohnte in der Wohnung auf dem Compound der Botschaft. Nach Angaben des Ehemanns teilten die Beteiligten ihren beiden (bereits volljährigen) Kindern im März 2021 mit, dass sie sich scheiden lassen wollten. Die Ehefrau reiste Ende Mai 2021 ab und lebt seither in der Berliner Mietwohnung der Beteiligten. Der Ehemann lebt weiterhin in der Wohnung auf dem Compound der Botschaft.
Im Juli 2021 hat der Ehemann beim Amtsgericht einen Scheidungsantrag gestellt, dem die Ehefrau seinerzeit mit der Begründung entgegengetreten ist, dass eine Trennung der Ehegatten frühestens im Mai 2021 erfolgt sei.
Bisheriger Prozessverlauf:
Das Amtsgericht hat den Scheidungsantrag zurückgewiesen, weil das (nach deutschem Recht erforderliche) Trennungsjahr noch nicht abgelaufen sei und Gründe für eine Härtefallscheidung nicht vorlägen. Auf die Beschwerde des Ehemanns hat das Kammergericht die Ehe der Beteiligten nach russischem Sachrecht geschieden. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass sich das auf die Ehescheidung anzuwendende Recht nach Art. 8 Rom III-VO richte, weil eine Rechtswahl gemäß Art. 5 Rom III-VO nicht erfolgt sei. Vorliegend finde Art. 8 lit. b Rom III-VO und damit das russische Sachrecht Anwendung, weil nach dem Vortrag der Beteiligten davon auszugehen sei, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Ehemanns in Moskau sei, während der dortige gewöhnliche Aufenthalt der Ehefrau erst mit ihrer Abreise nach Deutschland im Mai 2021 geendet habe, also weniger als ein Jahr vor Anrufung des Amtsgerichts. Ein Versorgungsausgleich sei in Ermangelung eines Antrags gemäß Art. 17 Abs. 4 Satz 2 EGBGB im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht durchzuführen.
Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Ehefrau, die eine Scheidung nach deutschem Sachrecht und zusammen mit dem Scheidungsausspruch eine nach §§ 137 Abs. 1 und 2, 142 Abs. 1 Satz 1 FamFG von Amts wegen im Scheidungsverbund zu treffende Entscheidung über den Versorgungsausgleich erstrebt.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Nach welchen Kriterien ist der gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten iSv Art. 8 lit. a und b Rom III-VO zu bestimmen, insbesondere beeinflusst die Entsendung als Diplomat die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts im Empfangsstaat oder steht sie einer solchen sogar entgegen?
muss die physische Präsenz der Ehegatten in einem Staat von gewisser Dauer gewesen sein, bevor davon ausgegangen werden kann, dass dort ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wurde?
setzt die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ein gewisses Maß an sozialer und familiärer Integration in dem betreffenden Staat voraus?
Beschluss vom 20. Dezember 2023 – XII ZB 117/23
Vorinstanzen:
AG Kreuzberg – Beschluss vom 26. Januar 2022 – 152 F 8176/21
Kammergericht – Beschluss vom 27. Februar 2023 – 3 UF 33/22
(c) BGH, 24.01.2024