Niedersächsischer Staatsgerichtshof stellt Verletzung der Abgeordnetenrechte wegen der Nichtzulassung der Redezeit in der Aktuellen Stunde fest.
Ausnahmsloser Ausschluss von der Redezeit in der Aktuellen Stunde verletzt Rechte fraktionsloser Abgeordneter.
In dem Organstreitverfahren StGH 1/22
des Abgeordneten des Niedersächsischen Landtages Wichmann (Antragsteller)
gegen
den Niedersächsischen Landtag (Antragsgegner)
hat der Nds. Staatsgerichtshof mit Urteil vom heutigen Tag eine Verletzung der Abgeordnetenrechte des Antragsstellers wegen der Nichtzulassung der von ihm beantragten Redezeit in der Aktuellen Stunde der Plenardebatte am 14. Dezember 2021 festgestellt.
I.
Der Antragsteller ist Abgeordneter des Niedersächsischen Landtages. Er gehörte bis zu deren Auflösung im September 2020 der Landtagsfraktion der Partei AfD an und ist seitdem fraktionslos. Der Antragsteller macht geltend, dass er durch die Verweigerung von Redezeit in der Plenardebatte am 14. Dezember 2021 zu einem Thema der Aktuellen Stunde in seinen Abgeordnetenrechten verletzt worden sei. Er beantragte, Redezeit zu einem Thema der Aktuellen Stunde am 14.12., die ihm der Antragsgegner verweigerte. Darin sieht der Antragsteller eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Abgeordnetenrechte.
II.
Wesentliche Erwägungen:
Art. 12 NV sichert jedem Abgeordneten einen Kernbestand an Rechten auf Teilhabe am Verfassungsleben, der unter anderem das Recht zur Rede im Parlament umfasst. Zum Kernbereich des Rederechts zählt die Chance und grundsätzliche Möglichkeit jedes Abgeordneten, zu jedem Tagesordnungspunkt reden zu können.
Das Recht der Abgeordneten auf freie und gleiche Mitwirkung an der politischen Willensbildung ist zwar nicht schrankenlos gewährleistet. Einschränkungen bedürfen aber einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung und sind nur zum Schutz gegenläufiger Rechtsgüter von Verfassungsrang zulässig. Derartige Verfassungsrechtsgüter sind insbesondere die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments sowie dessen Repräsentativität.
Bei der Beschränkung der Statusrechte der Abgeordneten ist ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Parlaments einerseits sowie den damit kollidierenden Statusrechten der Abgeordneten andererseits sicherzustellen.
Dem Parlament obliegt es, im Rahmen der Geschäftsordnung zu konkretisieren, was zur Erhaltung seiner Arbeits- und Funktionsfähigkeit sowie seiner Repräsentativität erforderlich ist. Dabei kommt ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Auch unter Berücksichtigung dieses weiten Gestaltungsspielraums gestatten es weder die Erhaltung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments noch seiner Repräsentativität, einen Abgeordneten generell und ausnahmslos von der Rede im Rahmen einer Aktuellen Stunde auszuschließen. Unvertretbare Verzerrungen kann das Parlament dadurch vermeiden, dass es die Redezeit fraktionsloser Abgeordneter in der Aktuellen Stunde eng begrenzt. Dabei hat er zu beachten, dass der Abgeordnete sein verfassungsmäßiges Rederecht in der gewährten Zeit noch ausüben kann. Das dürfte bei einer Redezeit von weniger als einer Minute nicht mehr der Fall sein.
Quelle: Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Pressemitteilung vom 14. September 2022