Niedersachsen unternimmt erhebliche Anstrengungen, um den Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen zu verhindern. Über 46.000 Hafttage konnten im Jahr 2021 vermieden werden durch Programme wie die „Geldverwaltung statt Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe“ oder „Schwitzen statt sitzen.“ Siehe hier . Vor allem die in freier Trägerschaft befindlichen Anlaufstellen für Strafffälligenhilfe leisten dabei sehr wertvolle Arbeit.
Bundesweit gibt es seit einiger Zeit immer wieder den Vorschlag, aktiver auf die Betroffenen zuzugehen, um Ersatzfreiheitsstrafen zu vermeiden. Niedersachsen geht diesen Weg bereits seit zwei Jahren! Erstmals liegen dazu jetzt Zahlen vor. Danach konnte in über 2.700 Fällen Hilfe geleistet werden.
Zum Ablauf
Seit Sommer 2020 binden die Staatsanwaltschaften die Gerichtshilfe des Ambulanten Justizsozialdienstes (AJSD) in die Geldstrafenvollstreckung ein. Hierbei werden sozialarbeiterische Aspekte in dem sonst juristisch geprägten Prozess der Geldstrafenvollstreckung berücksichtigt. Verurteilten Personen wird von Justizsozialarbeitern verdeutlicht, dass die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe unmittelbar bevorsteht – und es soll gemeinsam nach einer Lösung gesucht werden. Hierdurch sollen insbesondere die Menschen erreicht werden, die mit der Situation überfordert sind und den Überblick über ihre Situation komplett verloren haben. Die Staatsanwaltschaften sind aufgefordert, die Gerichtshilfe spätestens bei der Ladung zum Strafantritt im Falle der erstmaligen Verurteilung zu einer Geldstrafe einzubinden.
Zu den Zahlen
Von den im Jahr 2021 insgesamt 3.998 Verfahren, in denen der AJSD eingebunden wurde, konnte in 2.744 Verfahren (68,63%) ein Kontakt zum dem oder der Betroffenen hergestellt und im Gespräch ein Vorschlag zur Tilgung der Geldstrafe erarbeitet werden. Vornehmlich wurden dabei Anträge auf Ratenzahlungsvereinbarungen gestellt (2.620 Fälle). In 110 Fällen wurde ein Antrag auf Ableistung gemeinnütziger Arbeit gestellt. In 14 Fällen kam es zu einer Weiterleitung an die Anlaufstellen für Straffällige. In den Fällen, in denen kein Kontakt zu den Betroffenen hergestellt werden konnte, lag dies im Wesentlichen daran, dass die Betroffenen nicht angetroffen wurden oder eine Unterstützung ablehnten. Von den 3.998 Fällen Verfahren konnten 89,91% innerhalb der ersten vier Wochen bearbeitet und beendet werden.
Das sagt Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza:
„Aus Berlin kam zuletzt die Idee, dem Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe mit einer Halbierung der Haftdauer zu begegnen. Das sei ein Neustart in der Strafrechtspolitik. Diese Idee entlastet vielleicht unsere Haftanstalten, weil die Betroffenen zum Beispiel nicht mehr 20, sondern nur noch 10 Tage bleiben. Die Zahl der Betroffenen wird durch diesen vermeintlichen „Neustart“ jedoch nicht halbiert.
Die eigentliche Arbeit leisten die Länder, so wie wir in Niedersachsen, und die Anlaufstellen für Straffälligenhilfe. Auf die Betroffenen zuzugehen, um Ersatzfreiheitsstrafen zu vermeiden, ist anstrengend, personalintensiv und teuer. Und dennoch: Erst der Aspekt der Sozialarbeit ist das, was den Betroffenen wirklich hilft! Denn häufig gehen der Verurteilung zu einer Geldstrafe Suchtprobleme, Wohnungslosigkeit, familiäre Zerrüttung, Sprachprobleme oder Schulden voraus. Die Justiz muss hier also letztlich Probleme lösen, die viel früher entstanden sind.“
Zur Illustration der Arbeit der Gerichtshilfe: Echte Fallbeispiele aus dem Jahr 2021 in Niedersachsen
- Ein Betroffener wird beim zweiten Anlauf in seiner Wohnung angetroffen. Sowohl im Briefkasten als auch in der Wohnung stapeln sich ungeöffnete Briefe. Auf Nachfrage berichtet der Klient, dass er die Post nur unregelmäßig oder gar nicht öffne. Es würden immer nur schlechte Dinge darinstehen. Im Gespräch kann eine Lösung erarbeitet werden. Die Bedingungen zur Ableistung gemeinnütziger Arbeit (Projekt „Schwitzen statt Sitzen“) werden geklärt; es wird über eine mögliche Ratenzahlung informiert, auf Vereine der freien Straffälligenhilfe wird hingewiesen.
- Ein Betroffener wird zuhause angetroffen, nachdem er einen Termin im Büro nicht wahrgenommen hat. Er wirkt überrascht und gibt an, das Schreiben nicht erhalten zu haben. Zum Sachverhalt teilt er mit, er wisse worum es geht. Er habe eine Geldstrafe nicht gezahlt. Es täte ihm leid. Es sei ihm alles über den Kopf gewachsen. Finanzielle Probleme und Nachbarschaftsstreitigkeiten belasteten ihn. Er wisse nicht mehr, wie er alles bewältigen solle und rechne mit Abholung durch Polizei und somit einer Inhaftierung. Es wird über seinen Werdegang gesprochen und über seine Verbindlichkeiten. Letztlich erfolgt die Vereinbarung, dass der Staatsanwaltschaft eine monatliche Ratenzahlung in Höhe von 50 Euro sowie eine Anbindung an örtliche Schuldenberatung vorgeschlagen wird.
- Ein älterer Mann, bislang nie straffällig geworden, begeht hinter dem Rücken seiner erkrankten Frau kleinere Ladendiebstähle. Die Geldstrafen konnte er nicht an seiner Frau vorbei bezahlen, da sie trotz ihrer Erkrankung noch die häusliche Geldverwaltung unter sich hatte. So kam es zur Ladung zum Strafantritt. Im Gespräch konnte der Betroffene überzeugt werden, sich der Frau zu öffnen; eine Ratenzahlung wurde unter ihrer Mitwirkung vereinbart.
- Eine Betroffene folgt der ersten Einladung und erscheint pünktlich zum Gesprächstermin. Im Gespräch erklärt die Klientin, die Hoffnung auf eine Lösung ihrer Probleme bereits verloren und Post der Staatsanwaltschaft nicht mehr geöffnet zu haben. Durch die Kontaktaufnahme des AJSD konnte der Klientin eine Perspektive gegeben und Unterstützung angeboten werden. Die Lebenssituation der Klientin konnte besprochen und eine Ratenzahlung mit der Staatsanwaltschaft vereinbart werden.
Quelle: Niedersächsisches Justizministerium, Pressemitteilung vom 27. Juli 2022