Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts dem Eilantrag des Beschwerdeführers teilweise stattgegeben und den gegen diesen erlassenen Haftbefehl unter der Anordnung mehrerer Maßnahmen zur Sicherung des Strafverfahrens außer Vollzug gesetzt.
Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, im Jahr 1981 eine Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Das daraufhin gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren endete 1983 mit einem Freispruch. Im Februar 2022 wurde es wegen neuer Beweismittel aufgrund des am 30. Dezember 2021 in Kraft getretenen § 362 Nr. 5 der Strafprozessordnung (StPO) wieder aufgenommen. Zugleich wurde ein Haftbefehl erlassen. Der Beschwerdeführer befindet sich in Untersuchungshaft.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) sowie aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Zugleich beantragt er, den Haftbefehl im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen.
Der Senat kommt in einer Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre, überwiegen. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass geeignete, im Vergleich zur Untersuchungshaft weniger eingreifende Maßnahmen zur Minimierung der Fluchtgefahr getroffen werden.
Die Entscheidung ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen.
Sachverhalt:
Das Landgericht Lüneburg verurteilte den Beschwerdeführer mit Urteil vom 1. Juli 1982 wegen Vergewaltigung und Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die zugrundeliegende Anklage hatte dem Beschwerdeführer vorgeworfen, er habe 1981 eine 17-jährige Schülerin vergewaltigt und getötet. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil mit Beschluss vom 25. Januar 1983 wegen Mängeln in der Beweiswürdigung auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Stade. Dieses sprach den Beschwerdeführer mit Urteil vom 13. Mai 1983 frei.
Im Jahr 2012 unterzog das Landeskriminalamt Niedersachsen Sekretanhaftungen, die nach der Tat sichergestellt worden waren, einer molekulargenetischen Untersuchung. Nach dem Untersuchungsergebnis kommt der Beschwerdeführer als Verursacher einer Spermaspur in Betracht.
Am 30. Dezember 2021 trat das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit vom 21. Dezember 2021) in Kraft. Mit ihm wurde § 362 StPO um die hier verfahrensgegenständliche Nr. 5 ergänzt. Die Norm lautet:
§ 362 StPO (Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten)
Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,
(…)
5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches) (…) verurteilt wird.
Mit Blick auf die gesetzliche Neuregelung beantragte die zuständige Staatsanwaltschaft im Februar 2022 beim Landgericht Verden (nachfolgend: Landgericht) die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Beschwerdeführers und den Erlass eines Haftbefehls.
Das Landgericht erklärte den Wiederaufnahmeantrag mit angegriffenem Beschluss vom 25. Februar 2022 für zulässig und ordnete zugleich die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an, weil dringender Tatverdacht gegen ihn bestehe und der Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO sowie Fluchtgefahr vorliege.
Der Beschwerdeführer wurde noch am selben Tag festgenommen und befindet sich seither in Untersuchungshaft.
Seine gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Celle mit angegriffenem Beschluss vom 20. April 2022. Zur Begründung führte es aus, dass zum einen die seitens des Beschwerdeführers vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 362 Nr. 5 StPO nicht durchgreifen. Zum anderen habe das Landgericht die Voraussetzungen für den Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO zutreffend bejaht.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Zugleich beantragt er, den Haftbefehl im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde außer Vollzug zu setzen.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat teilweise Erfolg.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere ist die Frage offen, ob § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform ist und damit Grundlage sowohl für das Wiederaufnahmeverfahren als auch für die erneute Strafverfolgung des Beschwerdeführers, konkret die Untersuchungshaft zur Sicherung der Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens, sein kann. Ihre Klärung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
2. Die somit vorzunehmende Folgenabwägung gebietet den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, den Vollzug des Haftbefehls unter Anordnung der im Tenor aufgeführten Sicherungsmaßnahmen auszusetzen.
Die Folgenabwägung ergibt, dass die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre, überwiegen. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass geeignete, im Vergleich zur Untersuchungshaft weniger eingreifende Maßnahmen zur Minimierung der Fluchtgefahr getroffen werden.
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg, drohten dem Beschwerdeführer erhebliche und irreversible Nachteile. Er würde nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Landgericht voraussichtlich bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss in Untersuchungshaft bleiben, wenn nicht vorher über die Verfassungsbeschwerde entschieden würde.
Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, so verletzte die Untersuchungshaft das Grundrecht aus Art. 103 Abs. 3 GG, nach einem abgeschlossenen Strafverfahren keiner weiteren Strafverfolgung ausgesetzt zu sein, sowie das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG, keine ungerechtfertigte Freiheitsentziehung hinnehmen zu müssen. Die Untersuchungshaft stellt einen besonders intensiven Grundrechtseingriff dar und ist zudem nachträglich nicht mehr korrigierbar.
b) Erginge die beantragte einstweilige Anordnung und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als unbegründet, träten ebenfalls gewichtige Nachteile ein. Der Vollzug der Untersuchungshaft würde ausgesetzt und der Beschwerdeführer wäre nicht mehr in Haft. Nach den Feststellungen der Fachgerichte bestünde dann die Gefahr, dass er sich dem Strafverfahren entzieht. In diesem Fall könnte nach der noch ausstehenden Entscheidung über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags die erneute Hauptverhandlung nicht ohne Fahndungsmaßnahmen und – bei deren Misserfolg – gar nicht durchgeführt werden. Dadurch würde das – bei Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde bestehende – öffentliche Interesse an der Wiederaufnahme und der anschließenden Durchführung des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer beeinträchtigt und unter Umständen vereitelt.
c) Sowohl die Folgen einer einstweiligen Anordnung als auch die Folgen ihres Unterlassens sind damit insgesamt von solchem Gewicht, dass sie jeweils nicht vollständig zurücktreten dürfen.
Anders als in anderen Fällen der Anordnung von Untersuchungshaft besteht hier nicht nur die Möglichkeit, dass sich der Tatverdacht im Zuge der Ermittlungen beziehungsweise des Strafverfahrens nicht erhärtet. Ausschlaggebend ist vielmehr die Möglichkeit, dass die Untersuchungshaft gar nicht hätte erfolgen dürfen, weil die Strafverfolgung insgesamt unzulässig ist, wenn sich die Norm, die die Strafverfolgung eröffnet, als verfassungswidrig erweist. Dem grundrechtlichen Schutz aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG kommt unter diesen Umständen ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.
Die Schwere des Tatvorwurfs, der im Wiederaufnahmefall den berechtigten Strafverfolgungsanspruch des Staates begründet, hat jedoch ein solches Gewicht, dass auch dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung Rechnung getragen werden muss. Dies kann zwar im Rahmen der hier erlassenen einstweiligen Anordnung den Vollzug des Haftbefehls nicht rechtfertigen, wohl aber die Anordnung von Maßnahmen, die weniger intensiv in die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 3 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG eingreifen. Angesichts der von den Fachgerichten festgestellten Fluchtgefahr sind die im Tenor der Entscheidung aufgeführten Maßnahmen – Abgabe der Ausweispapiere, Meldepflichten und eine Aufenthaltsbeschränkung – geboten, um den staatlichen Strafverfolgungsanspruch ausreichend zu sichern. Dem Landgericht obliegt es, die Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Weiteren auszugestalten und – soweit erforderlich – den Zweck des Haftbefehls durch Maßnahmen nach § 116 Abs. 4 StPO (Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls) zu gewährleisten. Ein verbleibendes Risiko, dass sich der Beschwerdeführer der Strafverfolgung dennoch entzieht, muss dabei angesichts der besonderen Grundrechtsbelastung, die mit der – erneuten – Untersuchungshaft im Zuge der Zulassung des Wiederaufnahmeantrags verbunden ist, hingenommen werden.
3. Soweit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darüber hinausgehend auf uneingeschränkte Außervollzugsetzung des Untersuchungshaftbefehls gerichtet ist, hat er aus den vorgenannten Gründen keinen Erfolg.
Quelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung vom 16. Juli 2022