„2021 war ein außergewöhnliches, ein herausforderndes Jahr – gerade auch mit Blick auf unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Corona-Pandemie und das Protestgeschehen in diesem Zusammenhang haben den Verfassungsschutz im vergangenen Jahr stark gefordert. Im Umfeld des Protestgeschehens wurde auf alte und neue Verschwörungsideologien Bezug genommen. Die überwiegende Anzahl dieser Verschwörungsideologien ist zumindest extremistisch beeinflusst: Oftmals transportieren sie antisemitische oder staatsfeindliche Narrative, teilweise auch in Kombination mit rassistischen oder geschichtsrevisionistischen Ansichten. Das Landesamt für Verfassungsschutz als Frühwarnsystem unserer Demokratie bleibt deshalb weiter wachsam“, sagte der Stv. Ministerpräsident und Innenminister Thomas Strobl. Gemeinsam mit der Präsidentin des Landesamts für Verfassungsschutz Beate Bube hatte er am heutigen Donnerstag (14. Juli 2022) in Stuttgart den Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 vorgestellt.
Extremistische Verschwörungsideologien in der Corona-Pandemie
„Hauptnarrativ der kursierenden extremistischen Verschwörungsideologien ist eine grundsätzliche Staatsfeindlichkeit in Verbindung mit dem Gedanken des – angeblich legitimen – Widerstands gegen die herrschende Regierung. Als gemeinsamen Nenner schafft die Staatsfeindlichkeit sowohl Verbindungen zu Reichsbürgern und Selbstverwaltern als auch in den Rechtsextremismus, wo der Staat und die demokratische Ordnung ebenfalls abgelehnt werden. Die Gefährdung geht von neuen, zum Großteil auf Verschwörungsideologien basierenden Formen des Extremismus aus. Hierdurch gewinnt der in diesen Erzählungen oftmals enthaltene Antisemitismus auch in diesem Phänomenbereich eine hohe Bedeutung. „Vor diesem Hintergrund war es absolut richtig, dass wir im Verfassungsschutzverbund im letzten Jahr einen neuen Phänomenbereich unter der Bezeichnung ‚Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates‘ eingerichtet und die länderübergreifende Zusammenarbeit in diesem Extremismusbereich verstärkt haben“, erklärte Innenminister Thomas Strobl.
Die relevanteste Gruppierung im Phänomenbereich war 2021 „Querdenken 711“ mit ihren baden-württembergischen Ablegern. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg war bundesweit die erste Verfassungsschutzbehörde, die „Querdenken“ am 9. Dezember 2020 zum Beobachtungsobjekt erhob. Das Landesamt für Verfassungsschutz geht derzeit von rund 350 Personen aus, die der Szene zuzurechnen sind. Die Kommunikation rund um das Protestgeschehen im Phänomenbereich findet seit Beginn der Corona-Pandemie überwiegend über Messenger-Dienste statt, unter denen „Telegram“ nach wie vor die dominante Rolle einnimmt. Extremisten nutzen diese Möglichkeit des Austauschs unter anderem, um sich zum Widerstand gegen staatliche Maßnahmen oder die staatliche Ordnung insgesamt zu organisieren.
Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass neben der Corona-Thematik zukünftig auch andere Themenfelder zur Verbreitung staatsfeindlicher Narrative im Phänomenbereich herangezogen werden. So hat der Verfassungsschutz bereits Erkenntnisse über Bezugnahmen auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die damit mittelbar zusammenhängenden Folgen, z. B. steigende Kraftstoffpreise. Langfristig können auch Themen wie der Klimawandel und mögliche staatliche Maßnahmen zur Verringerung der Erderwärmung von Extremisten instrumentalisiert werden, um die Anschlussfähigkeit an breitere Gesellschaftsschichten zu erhöhen.
Weiterhin hohe Gefährdung durch den Rechtsextremismus
„Der Rechtsterrorismus war nie weg, das zeigen schwere rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten der letzten Jahre – der Anschlag von Hanau im Februar 2020, der Anschlag von Halle (Saale) im Oktober 2019 und die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 in Wolfhagen haben das deutlich gezeigt. Aber auch rechtsextremistisch motivierte Anschläge im Ausland, wie beispielsweise ganz aktuell der Anschlag vom Mai 2022 in Buffalo/New York, dürfen nicht aus dem Blick geraten. In einer globalisierten Welt, in der auch Rechtsextremisten sich weltweit virtuell vernetzen können, werden auch Anschläge in anderen Erdteilen zu Vorbildern für deutsche Nachahmer. Dabei liefern anonyme Chatgruppen und rechtsextremistische Influencer immer häufiger den digitalen Nährboden für eine ideologische Indoktrination und Radikalisierung“, warnte Minister Thomas Strobl. Zudem haben 2021 rechtsextremistische Einzelpersonen und Organisationen in Baden-Württemberg versucht, das Corona-Protestgeschehen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Hierbei trat insbesondere die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) in Erscheinung, die sich an verschiedenen Demonstrationen beteiligte, während die Partei „Der III. Weg“ vor allem Flugblattverteilungen durchführte.
Reichsbürger und Selbstverwalter
Dem Milieu der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ gehören aktuell rund 3.800 Personen in Baden-Württemberg an. Das Protestgeschehen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sowie die in diesem Zusammenhang verbreiteten Verschwörungserzählungen führten zu einem starken Zulauf zum Milieu. Die Ablehnung der staatlichen Maßnahmen erfolgt anhand unterschiedlichster ideologischer Herleitungen, so auch mithilfe der pseudojuristischen Ansichten von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“. Die Anschlussfähigkeit hat sich hierdurch in den vergangenen beiden Jahren erhöht, was sich inzwischen spürbar im Gesamtpersonenpotenzial niederschlägt. Schätzungsweise zehn Prozent der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ befürworten den Einsatz von Gewalt. Analog zu Rechtsextremisten hat das Milieu zudem eine hohe Affinität zu Schusswaffen. „Deshalb hat der Verfassungsschutz die Internetaufklärung intensiviert und konnte so auch das Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter weiter aufklären“, so Minister Thomas Strobl.
Linksextremismus – deutliche Zunahme der Straftaten
„Bei den linksextremistischen Straftaten war 2021 mit 659 Fällen eine deutliche Zunahme festzustellen; 2020 waren es noch 455 Fälle. Das führen wir auf eine erhöhte Agitation linksextremistischer Akteure im Zusammenhang mit der baden-württembergischen Landtagswahl und der Bundestagswahl im Jahr 2021 zurück. Auch die Zahl linksextremistisch motivierter Gewalttaten ist im Jahr 2021 mit insgesamt 62 Vorfällen im Vergleich zum Vorjahr – 59 Fälle – angestiegen“, führte Innenminister Thomas Strobl aus. Die gewaltorientierte linksextremistische Szene initiierte in Baden-Württemberg die Kampagne „antifascist action! – Gegen rechte Krisenlösungen“. Dabei wurde dazu aufgerufen, Flyer-, Plakat-, und Transparentaktionen vor allem zum Nachteil der AfD durchzuführen. Außerdem sollten entsprechende Wahlplakate zerstört und der Wahlkampf an Wahlkampfständen gestört werden. Die Kampagne entwickelte in kürzester Zeit eine große Dynamik und bereits wenige Wochen nach deren Start hatten sich auch Gruppen aus anderen Bundesländern angeschlossen, wie etwa aus Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern.
Weiterhin hohe Bedrohung durch den Islamistischen Extremismus
„Die vom islamistischen Terrorismus ausgehende Gefährdung ist weiterhin als hoch einzustufen. Allgemein befürwortet und legitimiert der islamistische Terrorismus – oder Jihadismus – die Anwendung von Gewalt zur Verbreitung und Durchsetzung der islamischen Glaubens- und Gesellschaftsordnung“, betonte Minister Thomas Strobl. Jihadistische Propaganda wurde in Form von Texten und Videos größtenteils über das Internet in zahlreichen Sprachen verbreitet. So hat beispielsweise der sogenannte „Islamischen Staat“ weltweit zu Attentaten aufgerufen. Neben jihadistisch organisierten Strukturen – terroristischen Vereinigungen – stellen vor allem jihadistisch motivierte Einzelpersonen ein Gefahrpotential dar. Das islamistische Personenpotential lag im Berichtszeitraum in Baden-Württemberg insgesamt bei 4.230 Personen und ist seit 2019 relativ konstant geblieben. Das stärkste Personenpotential hieraus entstammt mit 2.260 Personen der legalistisch islamistischen „Milli Görus“-Bewegung und mit 1.350 Personen dem salafistischen Spektrum.
Auslandsbezogener Extremismus
Das Personenpotenzial im auslandsbezogenen Extremismus hat sich im Vergleich zum Vorjahr leicht erhöht. Insbesondere eine verbesserte Erkenntnislage im Zusammenhang mit der PKK hat zu einer Steigerung des Personenpotentials auf 4.640 geführt; im Jahr 2020 waren es 4.525 bekannte Personen. Auch im türkischen Linksextremismus wurden Anpassungen vorgenommen. Die Intensität der Aktivitäten in diesem Spektrum hat auf ein gesteigertes Personenpotenzial schließen lassen. Die Fallzahlen im Bereich der Politisch Motivierten Kriminalität – ausländische Ideologie waren 2021 wie im Vorjahr rückläufig, wenn auch im geringeren Maße. Dies gilt jedoch nicht für die Gewaltdelikte, deren Anzahl sich erhöht hat. Bei den meisten Straftaten handelte es sich um Sachbeschädigungen, Beleidigungen und Verstöße gegen das Vereinsgesetz, vorwiegend im Zusammenhang mit dem türkisch-kurdischen Konflikt.
Baden-Württemberg ist Ziel ausländischer Nachrichtendienste
„Die Aktivitäten fremder Nachrichtendienste waren auch 2021 auf einem hohen Niveau. Baden-Württemberg ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung nach wie vor im Fokus fremder Nachrichtendienste. Aktuell ist klar erkennbar, dass Russland nach dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine seine Einflussnahmeaktivitäten verschärft und insbesondere die bekannten Narrative verbreitet: Täter-Opfer-Umkehr, Bedrohung Russlands durch die Ukraine und den Westen, Herabwürdigung und Verächtlichmachung des Gegners und gezielte Falschmeldungen zur Legitimierung des eigenen Vorgehens“, sagte Minister Thomas Strobl. Insbesondere die jeweilige Community soll durch solche Kampagnen gezielt instrumentalisiert werden und etwa zu Solidarisierungen, Mobilisierungen oder Auseinandersetzungen zwischen den die jeweilige Seite unterstützenden Lagern bewegt werden.
Aufgrund der oft hohen Reichweite gerade bei der Nutzung sozialer Netzwerke können Desinformationskampagnen auch darüber hinaus zu Verunsicherung führen, Vorurteile hervorrufen oder verstärken und so gesellschaftliche Konflikte vertiefen.
Quelle: Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 14. Juli 2022