Der unter anderem für das Pauschalreiserecht zuständige X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute auf der Grundlage einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union entschieden, welche Umstände für die Beurteilung der Frage maßgeblich sind, ob ein Reisender, der vor Beginn der Reise vom Vertrag zurückgetreten ist, von der Zahlung einer Entschädigung an den Reiseveranstalter gemäß § 651h Abs. 3 BGB befreit ist.
Sachverhalt:
Im Verfahren X ZR 53/21 buchte der Kläger bei der Beklagten im Januar 2020 eine Reise nach Japan im Zeitraum vom 3. bis 12. April 2020 zu einem Gesamtpreis von 6.148 Euro. Im Februar 2020 beschloss die japanische Regierung unter anderem, für die kommenden Wochen sämtliche Großveranstaltungen abzusagen und alle Schulen bis mindestens Anfang April zu schließen. Der Kläger trat am 1. März 2020 von der Reise zurück. Die Beklagte berechnete Stornokosten in Höhe von insgesamt 1.537 Euro (25 % des Reisepreises), die der Kläger bezahlte. Am 26. März 2020 erging für Japan ein Einreiseverbot. Der Kläger verlangte daraufhin die Rückzahlung des geleisteten Betrags.
Im Verfahren X ZR 3/22 buchte der Kläger eine Ostseekreuzfahrt im Zeitraum vom 22. bis 29. August 2020 für 8.305,10 Euro. Am 31. März 2020 trat er von der Reise zurück und verlangte die Rückzahlung der von ihm geleisteten Anzahlung in Höhe von 3.194 Euro. Die Kreuzfahrt wurde von der Beklagten am 10. Juli 2020 abgesagt.
Im Verfahren X ZR 55/22 buchten die Kläger im Juni 2019 eine Pauschalreise nach Mallorca vom 16. bis 30. Mai 2020 für 1.753 Euro und im Juli 2019 eine Flusskreuzfahrt „Wolga-Wunder und Zarenzauber“ vom 5. bis 15. September 2020 für 2.376 Euro. Am 14. April 2020 traten sie telefonisch von beiden Reisen zurück. Die Beklagte behielt die geleisteten Anzahlungen in Höhe von insgesamt 650 Euro ein und verlangte zusätzlich 548,50 Euro als Entschädigungspauschale. Beide Reisen konnten wegen der Pandemie nicht stattfinden.
Bisheriger Prozessverlauf:
Im ersten Verfahren hat das Amtsgericht die Beklagte antragsgemäß zur Rückzahlung von 1.537 Euro nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 255,85 Euro verurteilt.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht den zu zahlenden Betrag auf 14,50 Euro zuzüglich vorgerichtlicher Kosten in Höhe von 83,54 Euro reduziert und die weitergehende Klage abgewiesen. Zu Begründung hat es ausgeführt, im Zeitpunkt des Rücktritts habe man noch nicht vom Vorliegen unvermeidbarer außergewöhnlicher Umstände ausgehen können, die gemäß § 651h Abs. 3 BGB zu einem Ausschluss des Entschädigungsanspruchs führen. Das Einreiseverbot dürfe nicht berücksichtigt werden, weil es erst nach dem Rücktritt erlassen worden sei.
Der Bundesgerichtshof hat dieses Verfahren mit Beschluss vom 2. August 2022 (RRa 2022, 278) ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die Frage vorgelegt, ob nur diejenigen unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände maßgeblich sind, die im Zeitpunkt des Rücktritts bereits aufgetreten sind, oder ob auch Umstände zu berücksichtigen sind, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplanten Beginn der Reise tatsächlich aufgetreten sind (s. Pressemitteilung Nr. 118/2022).
Im zweiten Verfahren hatte die Klage in den beiden Vorinstanzen Erfolg. Amts- und Landgericht haben offengelassen, ob die Voraussetzungen von § 651h Abs. 3 BGB bereits im Zeitpunkt des Rücktritts vorlagen, und einen Rückzahlungsanspruch schon aufgrund der später erfolgten Absage der Reise bejaht.
Dieses Verfahren hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 30. August 2022 in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO bis zur Entscheidung des EuGH im ersten Verfahren ausgesetzt (s. Pressemitteilung Nr. 128/22).
Im dritten Verfahren waren die Kläger ebenfalls in den beiden Vorinstanzen erfolgreich. Auch in diesem Verfahren hatten Amts- und Landgericht offengelassen, ob die Voraussetzungen von § 651h Abs. 3 BGB schon im Zeitpunkt des Rücktritts vorlagen.
Der EuGH hat mit Urteil vom 29. Februar 2024 (C-584/22, RRa 2024, 62 – Kiwi Tours) entschieden, dass nach der für die unionsrechtliche Beurteilung maßgeblichen Regelung in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 (Pauschalreiserichtlinie) nur die Situation zu berücksichtigen ist, die im Zeitpunkt des Rücktritts bestand.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der X. Zivilsenat hat nunmehr in allen drei Fällen das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Aufgrund der Vorabentscheidung des EuGH dürfen weder das Einreiseverbot noch die Absage der Reise bei der Beurteilung berücksichtigt werden, weil diese Ereignisse erst nach dem Zeitpunkt des Rücktritts stattgefunden haben.
In allen drei Verfahren hat das Landgericht nach der Zurückverweisung die Frage zu beurteilen, ob bereits im Zeitpunkt des Rücktritts die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB bestand. Der Bundesgerichtshof kann über diese Frage nicht abschließend entscheiden, weil es an hierfür maßgeblichen tatrichterlichen Feststellungen fehlt.
Im zweiten und im dritten Verfahren hat das Landgericht diese nunmehr entscheidungserhebliche Frage – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – nicht behandelt.
Im ersten Verfahren ist das Landgericht zwar zu dem Ergebnis gelangt, im Zeitpunkt des Rücktritts sei noch nicht vom Vorliegen unvermeidbarer außergewöhnlicher Umstände auszugehen gewesen. Wie der Bundesgerichtshof bereits in seiner Vorlageentscheidung vom 2. August 2022 ausgeführt hat, ist diese Beurteilung jedoch rechtsfehlerhaft.
Die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung darf nicht allein deshalb verneint werden, weil es im Zeitpunkt des Rücktritts noch nicht zu einer erheblichen Zahl von Infektionen in Japan gekommen war und die dort getroffenen Maßnahmen vor allem der Verhinderung von Infektionen gedient haben. Das Berufungsgericht hätte sich vielmehr mit der Frage befassen müssen, ob die ungewöhnliche Art und Anzahl dieser Maßnahmen schon damals hinreichende Anhaltspunkte dafür begründeten, dass eine erhebliche Infektionsgefahr bestand, und nicht sicher war, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichen würden, um diese Gefahr abzuwenden. Diese Frage wird es nach der Zurückverweisung zu klären haben.
Im dritten Verfahren hat der Bundesgerichtshof ergänzend entschieden, dass die Kläger nicht schon dann zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet sind, wenn sie zunächst keine Gründe für ihren Rücktritt angegeben haben. Maßgeblich ist allein, ob im Zeitpunkt des Rücktritts tatsächlich unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände vorgelegen haben, die die Durchführung der Reise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.
Vorinstanzen:
X ZR 53/21:
Amtsgericht München – Urteil vom 8. Dezember 2020 – 243 C 10984/20
Landgericht München I – Urteil vom 22. Juni 2021 – 13 S 669/21
und
X ZR 3/22:
Amtsgericht Hersbruck – Urteil vom 21. Mai 2021 – 1 C 804/20
Landgericht Nürnberg-Fürth – Urteil vom 17. Dezember 2021 – 5 S 3127/20
und
X ZR 55/22:
Amtsgericht Frankfurt am Main – Außenstelle Höchst – Urteil vom 5. November 2021 – 385 C 459/20 (70)
Landgericht Frankfurt am Main – Urteil vom 28. April 2022 – 2 – 24 S 240/21
BGH, 28.01.2025