Das Verwaltungsgericht Berlin hat dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Rahmen des Asylklageverfahrens eines 26-jährigen senegalesischen Staatsangehörigen mehrere Fragen zur Komplettierung der Rechtsprechung zur Einstufung eines Drittstaats als sicherer Herkunftsstaat vorgelegt.
Senegal ist in Deutschland vom Gesetzgeber als sicherer Herkunftsstaat eingestuft. Das hat zur Folge, dass Asylverfahren von Senegalesen in Deutschland nach besonderen Regeln durchgeführt werden. So wird unter anderem individuell widerlegbar vermutet, dass im Herkunftsstaat Freiheit von Verfolgung und unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung besteht. In manchen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist der Senegal nicht (mehr) als sicherer Herkunftsstaat eingestuft; in den Niederlanden nur mit gruppenbezogenen Ausnahmen (etwa für LGBTQI+-Antragsteller und Personen, die Strafverfolgung oder Diskriminierung geltend machen).
Die Lage im Senegal stellt sich nach Ansicht der 31. Kammer wie folgt dar: Rund 25% der Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren sind Opfer von Genitalverstümmelung. Einige Regionen des Staates weisen dabei die höchsten Prävalenzraten weltweit auf (über 90 % aller Frauen der jeweiligen Region). Zwangsheirat, besonders Minderjähriger, ist trotz Verbots auf dem Lande verbreitet. Eine große Zahl von Kindern (Schätzungen gehen von 60.000 bis ca. 100.000 Kindern aus) zwischen 3 und 15 Jahren werden von ihren Familien in Koranschulen geschickt (sog. Talibé-Kinder), wo sie in vielen Fällen zum Betteln auf der Straße missbraucht werden. Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen sind im Senegalstrafbar und werden mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe geahndet. Religionsgemeinschaften zeigen keine Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten, in der Gesellschaft werden LGBTQI+-Personen diskriminiert. Die senegalesische Verfassung sieht zwar vor, dass alle Angeklagten das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren haben, und die Justiz hat dieses Recht im Allgemeinen durchgesetzt, aber willkürliche Verhaftungen und längere Inhaftierungen geben weiterhin Anlass zur Sorge.
Vor diesem Hintergrund bittet die 31. Kammer den EuGH um Klärung, ob für die Bestimmung eines Staats zum sicheren Herkunftsstaat (landesweit) Sicherheit für alle Bevölkerungsgruppen bestehen muss und was eine solche Bevölkerungsgruppe ist bzw. unter welchen Voraussetzungen sie als nicht sicher anzusehen ist. Der EuGH habe in Auslegung der Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) zwar jüngst entschieden (Urteil vom 4. Oktober 2024 – C-406/22 –), dass ein Drittstaat nicht als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden dürfe, wenn Teile seines Hoheitsgebiets nicht sicher seien (territorialer Aspekt). Offen sei jedoch noch, ob ein Drittstaat nicht als sicher eingestuft werden dürfe, wenn bestimmte Personengruppen nicht sicher seien (personengruppenbezogener Aspekt).
Der Beschluss ist unanfechtbar.
Beschluss der 31. Kammer vom 29. November 2024 (VG 31 K 671/23 A)
VG Berlin, 11.12.2024