Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) hat jede Form von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung entscheiden verurteilt. Man dürfe sich verbal streiten, auch mal heftig, sagte Bas in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Würde Gewalt aber zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung, „wäre die Demokratie ernsthaft in Gefahr“, warnte sie. Ihr berichteten Menschen in Uniform wie etwa Sanitäter, dass sie schon seit geraumer Zeit Beschimpfungen und Gewalt erleben. In den vergangenen Jahren sei verstärkt Gewalt gegen Repräsentanten des Staates hinzugekommen. Dies sei gerade auf der kommunalen Ebene ein großes Problem, auch weil sich immer weniger Menschen fänden, die sich kommunalpolitisch engagieren wollen.
Die Parlamentspräsidentin beklagte zugleich, dass sich die gesellschaftliche Polarisierung zunehmend auch in den parlamentarischen Debatten des Bundestages widerspiegele. Insbesondere persönliche Anfeindungen und Diffamierungen hätten deutlich zugenommen. Das Präsidium müsse leider feststellen, dass die von ihm erteilten Ordnungsrufe „teilweise als Trophäen gesammelt“ würden. Es sei aber nicht hinnehmbar und dem Ansehen des Parlaments abträglich, wenn die Abgeordneten sich in Plenardebatten, in denen es um die Sache gehen soll, persönlich beleidigen und diffamieren, betonte Bas. Umso mehr begrüße sie, dass die aktuellen Reformvorschläge zur Geschäftsordnung des Parlaments eine deutliche Verschärfung der Ordnungsmaßnahmen vorsehen.
Das Interview im Wortlaut:
Frage: Frau Präsidentin, am 7. September jährt sich die konstituierende Sitzung des ersten Deutschen Bundestags zum 75. Mal. Das Grundgesetz gibt dem Parlament eine starke Position im Verfassungsgefüge. Was hat sich besonders bewährt bei diesem Verfassungsorgan?
Bas: Der Deutsche Bundestag ist das zentrale Gesetzgebungsorgan. Was ihn ausmacht, ist seine starke Rolle bei der Kontrolle der Regierung. Bei bewaffneten Auslandseinsätzen der Bundeswehr – Stichwort Parlamentsarmee – oder in Angelegenheiten der Europäischen Union hat der Deutsche Bundestag große Einflussmöglichkeiten, gerade auch im internationalen Vergleich. Die Schlüsselrolle bei der Gesetzgebung zeigt sich zum Beispiel im „Struckschen Gesetz“!
Frage: Benannt nach dem früheren SPD-Fraktionschef Peter Struck, dem zufolge kein Gesetzesentwurf den Bundestag so verlässt, wie er hereingekommen ist…
Bas: Tatsächlich werden alle Gesetzentwürfe sehr intensiv beraten und bearbeitet. Viele werden verändert – zum Besseren, wie ich als Abgeordnete immer selbstbewusst sage.
Frage: Gleichwohl machen sich viele Menschen Sorgen um die Demokratie in westlichen Ländern, auch in Deutschland. Während Rechtspopulisten immer mehr Wähler finden, schwinden Toleranz und Kompromissfähigkeit. Gerät da nach 75 Jahren etwas ins Schwanken?
Bas: Es gab schon immer Menschen, die unsere Demokratie und unsere freiheitliche Gesellschaft angegriffen haben. Eine Demokratie ist auch nicht einfach: Es geht darum, unterschiedliche Interessen auszugleichen und Kompromisse zu finden. Viele Menschen schätzen den Kompromiss leider nicht mehr. Sie nehmen Maximalpositionen ein und haben ideologische Vorstellungen, von denen sie nicht abrücken wollen. Das polarisiert sehr. Insofern ist auch das Parlament herausgefordert. Vielen dauert das parlamentarische Verfahren auch zu lange. Bei bestimmten Themen kommt noch eine gewisse Wut dazu. Die Herausforderungen in der Welt sind groß. Zwar gab es Krisen schon immer, aber aktuell kommt viel zusammen. Die Corona-Zeit hat die Gesellschaft zusätzlich polarisiert. Auch das spielt noch eine große Rolle.
Umso mehr war es ermutigend zu sehen, wie viele Menschen Anfang des Jahres bei Wind und Wetter in ganz Deutschland für unsere Demokratie auf die Straße gegangen sind. Das war ein starkes Signal einer starken Zivilgesellschaft.
Den 75. Jahrestag des Deutschen Bundestages werden wir feiern: Zum Abschluss des Jubiläumsjahres „75 Jahre Demokratie lebendig!“ laden wir alle Bürgerinnen und Bürger zu einem Bürgerfest rund um den Bundestag am Spreeufer und zu einem „Tag der Ein- und Ausblicke“ am 6. und 7. September ein.
Frage: Nicht nur im Lande scheint der Ton rauer geworden zu sein, sondern auch im Bundestag: Allein in dieser Wahlperiode gab es mehr als 100 Ordnungsrufe – nur in der ersten Wahlperiode und nach dem Einzug der Grünen 1983 waren es mehr. Spiegelt das die zunehmende Schärfe der Auseinandersetzungen?
Bas: Scharfe Debatten um Inhalte hat es immer schon gegeben. Die gesellschaftliche Polarisierung spiegelt sich aber zunehmend auch in den parlamentarischen Debatten wider. Insbesondere persönliche Anfeindungen und Diffamierungen haben deutlich zugenommen. Wir als Präsidium müssen leider feststellen: Die von uns erteilten Ordnungsrufe werden teilweise als Trophäen gesammelt. Es ist aber nicht hinnehmbar und dem Ansehen des Hauses abträglich, wenn die Abgeordneten sich in der Plenardebatte, in der es um die Sache gehen soll, persönlich beleidigen und diffamieren. Umso mehr begrüße ich, dass die aktuellen Reformvorschläge zur Geschäftsordnung eine deutliche Verschärfung der Ordnungsmaßnahmen vorsehen.
Frage: Bis wann soll die Reform der Geschäftsordnung beschlossen sein?
Bas: Wir hatten in der letzten Sitzungswoche vor der parlamentarischen Sommerpause die 1. Lesung. Meine große Hoffnung ist, dass wir spätestens Ende des Jahres über die Reform entscheiden. Dabei geht es nicht nur um das Ordnungsrecht. Es geht um eine der größten Reformen der Geschäftsordnung, die in ihrem Kern noch aus dem Jahr 1980 stammt. Wir arbeiten hier im Hause teilweise nach Regeln, die auf interfraktionellen Absprachen und Übungen beruhen, die sich aber nicht in der Geschäftsordnung finden. Deswegen gibt es viele Punkte, die angepasst werden müssen. Dabei spielt auch die Digitalisierung eine große Rolle.
Frage: Wie wichtig ist es, solche Geschäftsordnungsreformen mit breiter Mehrheit unter Einschluss zumindest großer Teile der Opposition zu verabschieden, oder reicht dafür die Koalitionsmehrheit?
Bas: Nein. Geschäftsordnungen sind Regeln, nach denen alle Abgeordneten arbeiten müssen. Deswegen wünsche ich mir, dass die GO-Reform mit größtmöglicher Mehrheit und unter Einschluss der Opposition verabschiedet wird.
Frage: In der vergangenen Wahlperiode bedrängten Besucher von AfD-Abgeordneten andere Parlamentarier bis zum Fahrstuhl, 2020 gab es den Beinah-Sturm auf das Reichstagsgebäude, dieses Jahr sorgten Berichte für Aufregung, AfD-Abgeordnete beschäftigten mehr als 100 Mitarbeiter, die in als rechtsextrem eingestuften Organisationen tätig sind. Braucht der Bundestag mehr Schutz?
Bas: Schon mein Vorgänger hat nach diesen Vorkommnissen die Zugangsregeln verschärft. Das war richtig. In dieser Wahlperiode haben wir die Zugangsregeln noch einmal verschärft. Früher konnten Abgeordnete ohne Überprüfung sechs Gäste mitbringen. Jetzt müssen alle Gäste angemeldet und überprüft werden. Das mag als lästig empfunden werden, ist aber wichtig: Wir sehen eine wachsende Gefahr der Einflussnahme von außen, zum Beispiel durch Spionage und Cyberangriffe. Auch deshalb überlegen wir die Zuverlässigkeitsprüfung auf alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten – auch in den Wahlkreisen – auszuweiten. Und wir prüfen, ob wir im Einzelfall künftig auf Erkenntnisse des Verfassungsschutzes zurückgreifen können. Mir ist wichtig, dass alle Abgeordneten und Beschäftigten im Deutschen Bundestag sicher arbeiten können. Auf der anderen Seite müssen wir ein offenes Haus mit möglichst vielen Besucherinnen und Besuchern bleiben. Der große Vorteil gegenüber vielen Landesparlamenten ist: Wir haben eigene Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die dieses Haus schützen und dabei ausgezeichnete Arbeit leisten. Als Parlament eine eigene Polizei zu haben, ist ein großes Privileg.
Frage: Sie hatten im vergangenen Herbst ein Bundestagspolizeigesetz angeregt. Was soll denn da drinstehen?
Bas: Im Moment bestimmt Artikel 40 Grundgesetz, dass ich die Polizeigewalt habe und das Hausrecht ausübe. Das ist sehr abstrakt. Meine Bundestagspolizei wünscht sich hier mehr Rechtssicherheit und Klarheit für die tägliche Arbeit. Deshalb brauchen wir ein eigenes Bundestagspolizeigesetz. Hinzu kommt: Wenn wir Daten und Informationen mit anderen Behörden austauschen wollen, etwa bei der Zuverlässigkeitsprüfung, müssen wir auch das gesetzlich verankern. Ich hoffe, dass das Bundestagspolizeigesetz bis Ende des Jahres eine breite Zustimmung im Parlament findet.
Frage: Außerhalb des Bundestages ist seit Jahren eine erschreckend hohe Zahl von Angriffen auf Politiker zu beobachten. Woher kommt das?
Bas: Mir berichten Menschen in Uniform – wie etwa Sanitäterinnen und Sanitäter -, dass sie Beschimpfungen und Gewalt schon seit geraumer Zeit erleben. Die Gewalt gegen Repräsentanten des Staates kam in den vergangenen Jahren verstärkt hinzu. Gerade auf der kommunalen Ebene ist das ein großes Problem. Auch weil sich immer weniger Menschen finden, die sich kommunalpolitisch engagieren wollen. Klar muss sein: Man darf sich verbal streiten, auch mal heftig. Würde Gewalt aber zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung, wäre die Demokratie ernsthaft in Gefahr…
Frage: Nun versucht der Bundestag ja auch, auf neuen Wegen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Sie reisen mit Ihren Stellvertreterinnen und Ihrem Stellvertreter unter dem Motto „Präsidium vor Ort“ in Wahlkreise; es gibt das neue Instrument der Bürgerräte. Wie erfolgsversprechend ist das in Ihren Augen?
Bas: Als Abgeordnete machen wir das sowieso jeden Tag: Wir sind immer in unseren Wahlkreisen präsent, auch wenn wir dabei nur einen Teil der Bürgerinnen und Bürger erreichen. Das Besondere bei „Präsidium vor Ort“ ist, dass wir überparteilich den Deutschen Bundestag repräsentieren und mit den Menschen das Gespräch suchen. Das kommt gut an.
Beim ersten Bürgerrat zum Thema „Ernährung im Wandel“ haben rund 160 Bürgerinnen und Bürger aus ganz Deutschland mitdiskutiert. Von der Fleischesserin bis zum Veganer waren alle vertreten und haben gemerkt, wie schwierig Kompromisssuche in einer Demokratie sein kann. Gut fanden viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch, einmal zu sehen, wie der Bundestag arbeitet. Das hat viele so begeistert, dass sie sich jetzt auf kommunaler Ebene einbringen möchten. Schon dafür hat sich das gelohnt.
Frage: Nach eher weniger Bürgerbeteiligung klingt der 2023 von der Wahlrechtskommission des Bundestages aufgegriffene Vorschlag, die Legislaturperiode im Bund von vier auf fünf Jahre zu verlängern.
Bas: Die Verlängerung der Legislaturperiode halte ich für richtig. Das würde ich aber nicht isoliert machen. Inhaltlich müssten noch weitere Reformelemente dazu kommen und man sollte auch erst die übernächste Wahl in den Blick nehmen. Alle Bundesländer außer Bremen sind bei fünf Jahren. Nach dem Platzen der „Jamaika-Gespräche“ 2017 hatten wir erst ein gutes halbes Jahr nach der Bundestagswahl eine neue Regierung. Neue Abgeordnete brauchen etwa ein Jahr, um sich zurechtzufinden. Und in den Wahljahren fängt der Wahlkampf auch im Parlament schon früh an. Zudem habe ich die Hoffnung, dass fünf Jahre ein wenig zur Entschleunigung im Parlament beitragen können.
Frage: 2023 hatte das Bundesverfassungsgericht dem CDU-Abgeordneten Thomas Heilmann Recht gegeben, der in der knappen Beratungszeit von Koalitionsänderungen am Heizungsgesetz eine Verletzung seiner Beteiligungsrechte sah. Achtet der Bundestag, achtet die Mehrheit im Parlament die Minderheiten- und Abgeordnetenrechtegenügend?
Bas: Eine meiner Aufgaben als Bundestagspräsidentin ist es, genau darauf zu achten. Die Regierung leitet uns ihre Vorschläge zu, aber wir machen die Gesetze. Und das braucht Zeit. Darauf muss man die Regierung ab und zu deutlich hinweisen. Ich hatte bereits im März 2023 in einem „blauen Brief“ deutlich gemacht, dass Gesetzentwürfe dem Deutschen Bundestag stets so zuzuleiten sind, dass allen Abgeordneten sowie Sachverständigen eine fundierte Prüfung und Beratung möglich ist. Mir ist sehr wichtig, dass Eilverfahren auf das unbedingt notwendige Minimum beschränkt bleiben.
Frage: Bleiben wir in Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hat ja unlängst sein Urteil zur Wahlrechtsreform der Koalition verkündet. Dabei haben die Richter zwar die Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel gestoppt, aber die vorgesehene Zweitstimmendeckung für verfassungskonform erklärt. Damit soll die Abgeordnetenzahl auf maximal 630 begrenzt werden – wobei aber möglicherweise nicht jeder Erststimmen-Sieger tatsächlich ein Mandat erhält. Wie zufrieden sind Sie mit dem Urteil?
Bas: Das Bundesverfassungsgericht hat das Herzstück des neuen Wahlrechts – die sogenannte Zweitstimmendeckung – bestätigt und mit Blick auf die nächste Bundestagswahl in dem zentralen Punkt der Wahlrechtsreform für die nötige Klarheit und Rechtssicherheit gesorgt.
Dass ein Wahlkreissieger künftig nicht mehr automatisch in den Bundestag einzieht, ist vom Gericht als verfassungsrechtlich zulässig erachtet worden. Auch das Beratungsverfahren im Bundestag ist nicht beanstandet worden.
Mit dem Urteil bin ich zufrieden, denn die Zahl der Abgeordneten wird künftig eindeutig auf 630 begrenzt. Das ist auch ein wichtiges Signal an die Wählerinnen und Wähler. Es wird kein unkontrolliertes Anwachsen des Bundestages mehr geben. Das schafft Planungssicherheit, begrenzt Kosten und stärkt die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages.
(c) Deutscher Bundestag, 30.08.2024