Deutschland befindet sich wirtschaftlich in einer Krise. Gleichzeitig sind aber mehr als 1,5 Millionen Stellen unbesetzt. Quer durch die Branchen und Regionen stufen Betriebe aller Größenklassen in den DIHK-Unternehmensumfragen den Mangel an Fachkräften als eines ihrer größten Geschäftsrisiken ein. „Die Dimension dieser Herausforderung wird noch immer unterschätzt. Sie birgt – ebenso wie das Thema Energie – eine große Gefahr für unsere Unternehmen“, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian bei der Vorstellung eines Potenzial-Katalogs zur Verbesserung der Situation. „Wir müssen die demographische Lücke als Kernaufgabe annehmen. Dazu brauchen wir ein ganzes Bündel kreativer Lösungen, wie wir diese Lücke verkleinern oder gar schließen können.“

Jedes Jahr verlassen 400.000 mehr Ältere den Arbeitsmarkt, als Junge hinzukommen. „Diese Lücke wird immer größer und bedroht ganz konkret unseren Wohlstand“, so Adrian. „Selbst wenn nur eine Million Stellen nicht besetzt sind, fehlen unserer Volkswirtschaft Jahr für Jahr rund 50 Milliarden Euro an Wertschöpfung – das entspricht mehr als einem Prozent unseres jährlichen Bruttoinlandproduktes.“ Ob Digitalisierung oder Klimaschutz, auch alle Transformationsaufgaben hängen davon ab, dafür ausreichend Fachkräfte einsetzen zu können, sagte Adrian. „Wir setzen deshalb auf eine gemeinsame Kraftanstrengung. Denn klar ist: Ohne Fachkräfte keine Wirtschaft.“ 

Die DIHK als Dachorganisation der 79 deutschen Industrie- und Handelskammern (IHK) setzt deshalb den Austausch über praxistaugliche Strategien zur Fachkräftesicherung in den Mittelpunkt des IHK-Tages 2024 an diesem Mittwoch in Berlin. Zu der Veranstaltung mit vielen Good-Practice-Beispielen aus den Regionen und diversen Diskussionsforen werden neben hunderten Unternehmen auch viele Vertreter aus der Bundespolitik erwartet – darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, sowie die Bundesminister Robert Habeck (Wirtschaft) und Hubertus Heil (Arbeit). Auf einem Markt der Möglichkeiten stellen die IHKs ihre regionalen Initiativen zur Fachkräftesicherung vor. Der Austausch mit der Politik ist nach den Worten von Adrian sehr wichtig: „Wir wollen die Politik auf allen Ebenen mit ins Boot holen“, so Adrian. „Es gilt, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten und Probleme aus dem Weg zu räumen – im Interesse von Wirtschaft und Gesellschaft.“

„Wir haben in Deutschland noch so viele Potenziale, die wir nutzen können.” Das beginnt bei jungen Menschen, die mit einer besseren Berufsorientierung gezielter starten können. Das reicht über junge Eltern – vor allem Mütter – die nach wie vor in Teilzeit arbeiten, weil es an Betreuungsplätzen für die Kinder mangelt bis zu jungen Migranten, die sich am Arbeitsmarkt schwertun. Und das geht bis zu den Älteren, die sich einen flexibleren Übergang in den Ruhestand wünschen. „Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, müssen wir alle Register ziehen. Dabei geht es sowohl um die individuellen Arbeitszeiten als auch die Zahl der Menschen in Arbeit.”


Folgende Potenziale können noch gehoben werden:

Potenziale der Fachkräftemobilisierung:

  • Ältere im Arbeitsmarkt halten: Die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren setzt starke Anreize, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Seit ihrer Einführung nutzen sie jährlich bis zu 270.000 oft gut ausgebildete Fachkräfte, um den Arbeitsmarkt vorzeitig zu verlassen. Insgesamt haben schon über zwei Millionen Personen diesen Rentenzugang gewählt. Mit Blick auf den Fachkräftemangel in den Betrieben und auf den demografischen Wandel brauchen wir flexible Angebote zur Weiterarbeit statt Anreize zum Aufhören. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) könnte in Deutschland die Erwerbsbeteiligung Älterer im Jahr 2035 dadurch um 2,4 Millionen höher liegen.
  • Mehr Fachkräfte für die Höhere Berufsbildung gewinnen: Allein im IHK-Bereich werden jährlich etwa 60.000 Prüfungen in der Höheren Berufsbildung – etwa zum Industriemeister Metall oder zum Bachelor Professional in Bilanzbuchhaltung – abgenommen. Schon ein einmaliger Zuwachs von nur zehn Prozent (also etwa 6.000 Absolventen) würde zu einer zusätzlichen Wertschöpfung von etwa einer Milliarde Euro führen.
  • Arbeitslose stärker in Weiterbildung bringen: Die Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland ist seit Jahren im Aufwärtstrend: Inzwischen nehmen 60 Prozent der 18- bis 64-Jährigen an Weiterbildung teil und sogar 67 Prozent der Erwerbstätigen. Luft nach oben ist bei der Weiterbildungsbeteiligung Arbeitsloser: Nur 34 Prozent der 18- bis 64-jährigen Personen die arbeitslos gemeldet sind, haben laut Zahlen von 2020 an einer Weiterbildung teilgenommen. Würde es hier gelingen, in den kommenden zehn Jahren den Anteil um 20 Prozent zu steigern, könnten wir ein zusätzliches Potenzial von knapp 200.000 besser qualifizierten Personen erschließen.
  • Arbeitszeit ausweiten: Deutschlands Wochenarbeitszeit liegt unter dem EU-Durchschnitt. 2022 arbeiteten 20- bis 64-jährige Erwerbstätige in Deutschland 35,3 Stunden. (EU: 37,5 Stunden). Die 16,4 Millionen Arbeitnehmer in Teilzeit arbeiten durchschnittlich jeweils 768 Stunden pro Jahr. Würden sie 2,5 Stunden pro Woche mehr arbeiten, entspräche dies etwa 1,2 Millionen zusätzlichen Vollzeitstellen oder ca. 2,4 Mio. Teilzeitstellen. Allein bei Eltern ist das Potenzial enorm. Häufig hindern fehlende Betreuungsangebote sie daran, ihre Arbeitszeit auszuweiten.
  • Produktivität erhöhen: Die Steigerung der Arbeitsproduktivität in Deutschland war in den letzten Jahren geringer als früher – und oft geringer als in anderen Ländern. Sie lag zuletzt bei durchschnittlich 0,5 Prozent pro Jahr. Durch Weiterbildung sowie den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung bestehen auch hier neue Möglichkeiten. Hätte etwa die Steigerung der Arbeitsproduktivität zuletzt bei 1,5 Prozent gelegen, stünden rechnerisch etwa 450.000 Fachkräfte zusätzlich für neue Aufgaben zur Verfügung.
  • Qualifizierte Zuwanderung nutzen: Die Erwerbsmigration aus Drittstaaten ist mit Blick auf hiesige Fachkräfteengpässe ausbaufähig: 73.000 Personen sind 2022 eingereist, die einen Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit erhielten. Eine bessere und schnellere Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes in der Praxis ist daher nötig, um kurzfristig die Zahl zumindest auf 100.000 Personen erhöhen zu können. 
  • Beschäftigung von Menschen ohne deutschen Pass steigern: Zuletzt ist der Beschäftigungsaufbau von Menschen ohne deutschen Pass gelungen. So nahm 2023 die Zahl der ausländischen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 341.000 zu, während die der deutschen um 77.000 sank. Die Beschäftigungsquote von Menschen ohne deutschen Pass in Deutschland liegt zugleich nach wie vor merklich unter der der Deutschen. Mit Maßnahmen zur Integration, Qualifikation, Spracherwerb, Arbeitsvermittlung sowie Anerkennung von Abschlüssen ließen sich deutliche Potenziale erschließen. Würde es gelingen, die Differenz bei der Beschäftigungsquote der ausländischen (aktuell etwa 54 Prozent) gegenüber der der deutschen Arbeitnehmer (64 Prozent) zu halbieren, entspräche das etwa 500.000 zusätzlichen Beschäftigten.
  • Frauen mit Migrationshintergrund mobilisieren: Die Partizipationsquote liegt bei Frauen mit Migrationshintergrund um bis zu 20 Prozentpunkte unter der der deutschen Frauen. Für eine bessere Integration in den Arbeitsmarkt und damit auch in die Gesellschaft sollte unter anderem ein Fokus auf der Verbesserung der Sprachkenntnisse liegen. Auch bessere und passende Angebote für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind in diesem Zusammenhang relevant. Durch erfolgreiche Integration könnte das Erwerbspersonenpotenzial um mehrere hunderttausend Arbeitskräfte steigen. Laut IAB könnten bis zum Jahr 2035 so 400.000 Frauen mehr in den Arbeitsmarkt gelangen.
  • Vertragsauflösungen bei Azubis reduzieren: Insgesamt wurden 2022 in der gesamten Wirtschaft rund 160.000 Auflösungen von Ausbildungsverträgen verzeichnet. Davon sind rund 80.000 echte Ausbildungsabbrüche – also solche, die nicht in einen anderen Betrieb oder Ausbildungsberuf geführt haben. Eine frühere, praxisorientierte und realitätsnähere Berufsorientierung, Praktika im Vorfeld der Ausbildung sowie einen Ausbau von Hilfen zur Konfliktbewältigung könnten helfen, dass die jungen Menschen zielgenauer den für sie passenden Beruf finden und sich so etwa 40.000 reale Vertragslösungen vermeiden ließen.
  • Mehr NEETS (Not in Employment, Education or Training) in Ausbildung bringen: In Deutschland gab es zuletzt 630.000 Jugendliche oder junge Erwachsene, die sich weder in einer Ausbildung, einem Studium oder in einem festen Arbeitsverhältnis befanden. Viele von ihnen sind nicht erwerbsfähig, haben familiäre Verpflichtungen oder bereiten sich etwa im Ausland auf ihr Berufsleben vor. Vor allem bei jenen jungen Menschen, die sich auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder Studienplatz befinden, schlummert Potenzial. Durch eine bessere Berufsorientierung, einen flächendeckenden Ausbau der Jugendberufsagenturen und ein verstärktes Ausbildungsmarketing könnten wir schätzungsweise knapp 50.000 von ihnen zusätzlich den Weg in eine Ausbildung ebnen. 

(c) DIHK, 14.05.2024

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