Die von der Bundesregierung geplante Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (20/10861) wird von Sachverständigen unterschiedlich bewertet. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Montag deutlich. Ziel der Regelung ist es, Schwangere vor Schwangerschaftsberatungsstellen und Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, wirksamer vor sogenannten Gehsteigbelästigungen durch Abtreibungsgegner zu schützen, und dafür zu sorgen, dass das Fachpersonal der Beratungsstellen seine Arbeit ungestört ausüben kann. Dazu sollen in einem Bereich von 100 Metern um den Eingangsbereich der Beratungsstellen „nicht hinnehmbare Verhaltensweisen“ untersagt werden, wenn diese geeignet sind, die Inanspruchnahme der Beratung oder den Zugang zu Einrichtungen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, zu beeinträchtigen.
Professor Steffen Augsberg von der Justus-Liebig-Universität Gießen hält den Gesetzentwurf für überflüssig und zugleich übergriffig. Bedrohungen, Nötigungen und Beleidigungen seien schon jetzt geregelt, sagte er. Auf der anderen Seite seien die Proteste, vor denen die Schwangeren geschützt werden sollen, ihrerseits durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit grundrechtlich geschützt. Diese Grundrechte dürften nicht streng inhaltlich kontrolliert werden.
Professor Sigrid Boysen von der Universität der Bundeswehr Hamburg vermochte hingegen keinen unzulässigen Eingriff in die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit erkennen. Es gehe in dem Fall nicht um einen Meinungskampf im öffentlichen Raum. Der Gesetzgeber verfolge das Ziel, die verpflichtende Beratungslösung zu schützen. Der grundrechtliche Konflikt des Schwangerschaftsabbruchs werde in einer formalisierten Situation prozeduralisiert. Die Konfliktberatung dürfe also nicht ihrerseits zu einem von außen an sie herangetragenen zusätzlichen Konflikt gemacht werden.
Tomislav Čunović, Geschäftsführer des Vereins „40 Days for Life International“, sprach von einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit aufgrund einer „nicht erforderlichen Abstandsregelung von 100 Metern“. Weder das „friedliche Gebet“ noch das in beiderseitigem Einverständnis stattfindende Gespräch zwischen einer schwangeren Frau und einer „Gehsteigberaterin“ stellen seiner Ansicht nach eine aufdringliche oder nötigenden Situation dar. Friedliche und christlich motivierte Lebensretter sollen „unter Generalverdacht“ gestellt werden, beklagte er.
Eine bundeseinheitliche Regelung sei unabdingbar, befand Céline Feldmann vom Deutschen Juristinnenbund. Präventive Mitteln würden benötigt, um Gehsteigbelästigungen begegnen zu können. Sie seien notwendig, damit der ungehinderte Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen abgesichert ist und die reproduktiven Rechte von Schwangeren gestärkt werden.
Durch die Regelung werde Rechtssicherheit geschaffen, befand Professor Sina Fontana von der Universität Augsburg. Der Gesetzentwurf diene der Erfüllung der Schutzpflicht für das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Schwangeren und sichere das staatliche Beratungskonzept im Kontext des Schwangerschaftsabbruchs. Beide Zielsetzungen überwiegen ihrer Einschätzung nach in einer Abwägung mit den kollidierenden Rechtsgütern – der Versammlungsfreiheit, der Meinungsfreiheit und der Religionsfreiheit der Protestierenden.
Professor Helmut Frister von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zeigte sich skeptisch, ob durch den Entwurf tatsächliche mehr Rechtssicherheit in Sachen Gehsteigbelästigung geschaffen werden könne. Die im Gesetz enthaltenen Einschränkungen, die aus dem Bemühen entstünden, jedem Einzelfall gerecht zu werden, würden den Vollzugsbehörden im Umgang mit Gehsteigbelästigungen „Steine statt Brot“ geben. Die notwendigen Abwägungen würde dadurch wieder auf Vollzugsbehörden und Gerichte verlagert.
Auch Professor Christian Hillgruber von der Universität Bonn hält das Ziel des Gesetzes für nicht erreichbar, „weil alles von den von Fall zu Fall sehr unterschiedlichen Einzelumständen abhängt“. Zudem fehle es dem Bund für die geplante Erstreckung des Sicherstellungsauftrags auf ungehinderten Zugang zu den Beratungsstellen und den Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sowie für die Behinderungs- und Belästigungsverbote an der erforderlichen Gesetzgebungskompetenz.
Laut Claudia Hohmann, Leiterin der Beratungsstelle Pro Familia Frankfurt-Main, haben die Belagerungen von Schwangerschaftsberatungsstellen zugenommen. Keine Frau dürfe aber mit physischen oder psychischen Mitteln dazu bewegt werden, eine Entscheidung zur Fortsetzung oder zum Abbruch ihrer Schwangerschaft zu treffen. Der Gesetzgeber habe ausdrücklich festgelegt, dass die Beratung ergebnisoffen stattfinden müsse. Es dürfe daher keine Beeinflussung vor den Beratungsstellen stattfinden.
Julia Seeberg, Geschäftsführerin beim donum vitae Bundesverband, der ebenfalls Schwangerschaftskonfliktberatung anbietet, begrüßte das Anliegen des Gesetzentwurfes. Umfragen hätten gleichwohl ergeben, dass die donum vitae Beratungsstellen bisher nicht von den im Gesetzentwurf dargelegten physischen Gehsteigbelästigungen betroffen sind.
Juliane Meinhold vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband begrüßte die Zielsetzung des Entwurfes. Die rechtlichen Formulierungen suggerierten jedoch, dass die Ordnungsbehörden quasi nur in Bezug auf die Belästigung Schwangerer als Tatbestandsvoraussetzung von den Schutzregelungen Gebrauch machen dürften und damit die Ratsuchenden gezwungen werden könnten, offenzulegen, ob sie schwanger sind oder nicht. „Dies wäre nicht mit dem Sinn und Zweck der Schutzregelung vereinbar und führt wiederum zu Rechtsunsicherheiten vor Ort“, sagte sie.
Karsten Scholz als Vertreter der Bundesärztekammer unterstützte ausdrücklich die Einführung von Belästigungsverboten. Da jedoch auch das Personal in den Einrichtungen regelmäßig belästigt werde, sollte dieses aus Sicht der Bundesärztekammer nicht nur vor einer Behinderung bei der Arbeit, sondern ebenso vor Belästigungen geschützt werden. Aus Sicht von Daniela Schneckenburger vom Deutschen Städtetag kann der Gesetzentwurf zu einem rechtssicheren und bundeseinheitlichen Umgang beitragen. Es sei gut, dass den Landesbehörden nun konkrete Voraussetzungen benannt werden, bei deren Vorliegen ein Eingriff möglich sein wird. Kritisch anzumerken sei aber, dass die vorgeschlagenen Bestimmungen angesichts der widerstreitenden Grundrechte nach wie vor Fragen offenließen.
(c) HiB Nr. 310, 13.05.2024