Keineswegs einig waren sich die Experten, als sie sich bei einer Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat mit dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Handlungsfähigkeit der Strafverfolgungsbehörden sichern – Entscheidung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat bezüglich der polizeilichen Analyse-Software Bundes-VeRA revidieren“ (20/9495) befassten.
In dem Antrag wird auf das Programm „Polizei 20“ (P 20) verwiesen, das das Innenministerium ins Leben gerufen habe und die polizeiliche Infrastruktur so modernisieren solle, dass der Austausch von Informationen zwischen Bund und Ländern erleichtert werde. Bundesinnenministerin Nancy Faeser habe Anfang Juli 2023 dem Bundeskriminalamt sowie der Bundespolizei die Einführung der Analyseplattform Bundes-VeRA der US-Firma Palantir Technologies untersagt. Laut Bundesregierung solle stattdessen nun ein polizeiliches Analysetool „in eigner digitaler Kompetenz“ entwickelt werden.
Hans Christoph Atzpodien, Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, plädierte bei Bundes-VeRA für eine stringent nationale Lösung, allerdings nicht auf der Grundlage einer behördlichen Eigenentwicklung, sondern auf der Basis einer nationalen Analyseplattform. Nationale Souveränität bedeute nicht, alles selbst machen zu müssen, aber es bedeute, im Zweifel alles machen zu können. Er bat die Ausschussmitglieder darum, sich für eine deutsche Lösung einzusetzen – gerade in Zeiten, in denen mit Sorge auf die nächste Präsidentschaft Trumps in den USA geblickt werde.
Susanne Dehmel, Bitkom, meinte, eine vollständige Neuentwicklung von bereits auf dem Markt verfügbaren Lösungen sei zwar sehr kosten- und zeitintensiv, könne aber nach Abwägung aller Chancen und Risiken einen Mehrwert haben, wenn es um Kernkompetenzen im Bereich der nationalen Sicherheit gehe. Andererseits ließen sich solche komplexen Systeme immer weniger in Eigenentwicklungen aufbauen oder gar betreiben. Sie verwies auf die Masse an Daten am Beispiel der Geldwäsche. Das Volumen aller Verdachtsfälle sei so groß, dass eine Verfolgung nur rudimentär erfolge. Die digitale Arbeitsfähigkeit staatlicher Einrichtungen sicherzustellen, sei letztlich eine Voraussetzung für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat.
Ulrich Kelber, Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, befand, es sei aus datenschutzrechtlicher Sicht zu begrüßen, wenn das Programm P 20 eine eigene Softwarelösung entwickle. Der Schutz der Grundrechte der betroffenen Personen sei Aufgabe des Staates und könne durch eigene digitale Lösungen am besten sichergestellt werden. Anderenfalls bestehe das Risiko, Abhängigkeiten mit privaten Anbietern einzugehen, die nicht immer vorhersehbar sein könnten. Unbemerkte Manipulationen und Zugriffe seien nicht auszuschließen. Um eine verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Abhängigkeit der Polizeibehörden zu vermeiden, seien Eigenentwicklungen grundsätzlich vorzugswürdig.
Markus Löffelmann, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, hielt die Entscheidung, nicht auf ein von einem US-amerikanischen Unternehmen angebotenes System zurückzugreifen, sondern ein solches selbst zu entwickeln, für gut nachvollziehbar. Auf diese Weise könne außerdem die gebotene Transparenz der Funktionsweise besser gewährleistet und dem ausdrücklich vom Bundesverfassungsgericht thematisierten Missbrauchsrisiko bei der Verwendung von privaten und ausländischen Herstellern leichter begegnet werden. Die Auswahl einer bestimmten Analysesoftware sei untrennbar mit den Anforderungen an die rechtliche Ausgestaltung ihres Einsatzes verknüpft.
Dirk Peglow, Bund Deutscher Kriminalbeamter, nannte die Entscheidung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser einen erstaunlichen Vorgang, der erhebliche Auswirkungen für die Auswerte- und Analysekompetenz der deutschen Polizei haben werde. Aus Sicht der polizeilichen Praxis verursache jede Verzögerung bei der deutschlandweiten Nutzung von Analyseplattformen erhebliche Erkenntnisdefizite bei den Strafverfolgungsbehörden. Natürlich solle die deutsche Polizei ihre digitale Souveränität sicherstellen, meinte er auch mit Blick auf das US-Unternehmen Palantir Technologies. Allerdings sei, bezogen auf die Nutzung von Analyseplattformen, nicht zu erwarten, dass in annehmbaren Zeiträumen konkurrenzfähige Produkte aus deutscher Produktion auf den Markt kommen würden, selbst wenn sofort gezielt mit der Entwicklung begonnen werde.
Simone Ruf, Gesellschaft für Freiheitsrechte, machte klar, der Einsatz der Datenanalyse-Software Bundes-VeRA ermögliche mittels „Datamining“ tiefgreifende Grundrechtseingriffe und sei nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung nur unter strengen Voraussetzungen möglich. Solche Rechtsgrundlagen existierten derzeit weder für das Bundeskriminalamt noch für die Bundespolizei. In jedem Fall sei davon abzuraten, auf kommerzielle Anbieter wie Palantir zurückzugreifen. Diese strebten Gewinnmaximierung an und arbeiteten mit vielen anderen Vertragspartnern zusammen, die ein Interesse an Daten aus Deutschland haben könnten.
Christine Skropke, secunet Security Networks AG, sagte, im Sinne einer nachhaltigen nationalen Industriestrategie solle insbesondere bei den kritischen Teilprojekten wie den Analyse- und Auswertungsfähigkeiten auf digital souveräne Lösungen nationaler Hersteller gesetzt werden. Die Vergabe an außereuropäische Anbieter möge kurzfristig attraktiv erscheinen, ignoriere jedoch mittel- und langfristig nicht absehbare finanzielle, technische und letztlich auch politische Risiken.
Klaus Teufele, Bayerisches Landeskriminalamt, wies darauf hin, dass bereits bei der Polizei vorliegende Informationen in unterschiedlichsten IT-Verfahren vorlägen und derzeit einzeln abgefragt und die Ergebnisse händisch miteinander abgeglichen würden, um Zusammenhänge erkennen zu können: „Die Polizei weiß erst nach Tagen, was die Polizei weiß“, während die Täter in Echtzeit vernetzt seien. Nach der europaweiten Ausschreibung Bayerns im Januar 2021 sei Palantir Technologies als leistungsstarke Firma ausgewählt worden. Nach seiner Überzeugung stelle sie die aktuell bestmögliche Software für eine polizeiliche Recherche- und Analyseplattform dar.
Roland Wagner, Hessisches Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz, sagte, das Streben nach digitaler Souveränität sei wichtig und perspektivisch alternativlos. Dies bedeute jedoch ausdrücklich nicht, zwingend erforderliche Technologien nicht zu nutzen, wenn sie derzeit von deutschen Firmen nicht geliefert werden könnten. Die fachliche Lücke an Analysefähigkeiten in den Polizeien des Bundes und der Länder sei groß und gefährde ganz aktuell die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger.
(c) HiB Nr. 257, 22.04.2024